Hallo Kevin?

Ich möchte aber auch gerne dieses Problem lösen, denn es ist schon verlockend, live in Patchwork sein Buch diktieren zu können, nicht? Wenn Patchwork schon vorlesen kann, warum sollte es dann nicht auch verstehen können? Also klicke ich mich auf die Seite des Herstellers des Spracherkennungsprogramms.

Dort hatte ich einen kleinen Chat bemerkt, der aufgeht, sobald man sich auf der Seite etwas weiter hinuntergescrollt hat und damit den Eindruck eines vermittelt, der ratlos um sich schaut. Vielleicht, wo er bezahlen kann.

Trotzdem ich das weiß, bringt es mich geringfügig aus der Fassung, als sich das Chat-Fenster öffnet und mich ein Fremder anspricht.

»Ich bin ein Vertreter von Firma X. Wie kann ich Ihnen helfen?« Vor diesem Satz zur Kontaktaufnahme steht sein Namen, wie sich das für einen Chat gehört: Kevin. Unter seiner Frage wartet der blinkende Cursor auf meine Antwort.

Ich runzle die Stirn und tippe ein: »Wie kann ich das Programm in meine Applikation so einbauen, so wie in Word oder einen Browser, dass es direkt ohne dass störende Schreibfenster schreibt?« Vor meinem Text steht Visitor9390314, was mir den Eindruck vermittelt, es mit einer vielbeschäftigten Hotline zu tun zu haben. Wann haben die mit Null begonnen? Heuer? Diesen Monat? Heute?? Auf jeden Fall ein Großraumbüro, wenn nicht größer.

Unter dem Eingabefenster erscheint: ›Operator is typing‹, gefolgt von drei sich bewegenden Punkten. Ah ja, eifriges Tippen jenseits der Pipeline.

Kevin: »Willkommen auf unseren Chat Dienst!« Leichter Unmut meldet sich bei mir anlässlich des Deppenleerzeichens zwischen Chat und Dienst. Aber dann, na ja, knapp vor Mitternacht, wahrscheinlich unterbezahlt … pfeif doch auf die perfekte Rechtschreibung, was soll’s. Vielleicht hat er Hunger und träumt während des Schreibens von einem Wiener Schnitzel. Oder einem Schweins Braten. Wer weiß.

Kevin: »Welche Version nutzen SIe bitte?«

Kevin: »Sie*«

Visitor9390314: »Die neueste … 13 oder so.« Operator is typing …

Kevin: »Besitzen SIe das Benutzerhandbuch?« Er scheint einen SIe-Fehler zu haben.

Visitor9390314: »Nehme ich stark an.« Operator is typing …

Kevin: »Lassen Sie uns Ihnen einen Link schicken damit sie das Benutzerhandbuch durchlesen können. Besuchen Sie bitte: …«, und da steht dann ein ellenlanger Link mit ›pdf‹ am Ende.

Visitor9390314: »martin@danesch.eu.« Ich war zu schnell, dachte, er wolle mir einen Link schicken. Per Mail. Na gut, auch für mich ist fast Mitternacht.

Kevin: »haben Sie die PDF Datei laden können?«

Visitor9390314: »Ja.« Operator is typing …

Kevin: »Hervorragend!«

Kevin: »Inwiefern können wir Ihnen noch weiter helfen?«

Visitor9390314: »Wenn im Benutzerhandbuch steht, wie ich mein Schreibprogramm einbinden kann, dann mal momentan gar nicht, danke.«

Kevin: »Bitte schön! Genießen Sie den Besuch auf unserer Webseite.« Genießen? Okay …

Kevin:« Wir bedanken uns bei Ihnen für den Besuch auf …. de und wünschen Ihnen noch ein schönes Wochenende.« Sehr höflich.

Kevin: »Zu jeder Zeit, wenn Sie zu einem ansprech Partner/Begrüßer sprechen wollen, klicken Sie einfach auf die Live-Operator-Taste und es wird jemand da sein, um Ihnen zu helfen.«

Visitor9390314: »mach ich; -) auch so viel.« Operator is typing …

Kevin: » :) « Hat ja richtig mitternächtlichen Humor, der Kevin da draußen.

Ich lese das Handbuch durch und stoße in den 30 Kapiteln nirgends auf einen Hinweis, wie ich die Spracherkennung in Patchwork einbinden kann. Microsoft ja, Browser ja, Outlook ja, aber nicht wie es bei einem anderen Programm geht. Also rufe ich die Spracherkennungs-Software-Seite wieder auf und bin freudig überrascht: Kevin hat auf mich gewartet. Wie aufmerksam.

Visitor9390314: »Hallo, Kevin, noch da – derselbe?«

Kevin: »Ja!«

Kevin: »Womit können wir Ihnen noch dienen?«

Visitor9390314: »Super. Habe in dem Handbuch leider nichts Befriedigendes gefunden. Wenn ich die Spracherkennung in meinem Programm starte, erscheint generell immer das Spracherkennungsfenster.«

Kevin: »Bitte wenden Sie sich an einen Berater des technischen Supports die Nummer lautet:… Montag bis Freitag 9:00 bis 17:00 Uhr!«

Okay, ich streiche mir übers Kinn, dann werde ich wohl am Montag den Support anrufen müssen. Aber Kevin möchte sich offensichtlich noch weiter die Langeweile vertreiben. Nein, das war jetzt nicht nett, er will einfach seinen Job gut machen. Vielleicht hat er ja ADHS und kann nicht still sitzen. Ich habe ein schlechtes Gewissen.

Kevin: »Können wir sonst noch weiterhelfen?«

Visitor9390314: »Nö, thanks.«

Kevin: »Das Vergnügen ist ganz auf unserer Seite.« Äh …?

Visitor9390314: »Very smart.« Operator is typing …

Kevin: »Vielen Dank, dass Sie unseren Service schätzen.« Schätzen? Ähm … nein, ne, glaub ich nicht. Mitternachts-Kevin … künstlich …? Nein. Oder?

Visitor9390314: »Automat oder Human?« Operator is typing …

Kevin: »Ich bin ein echtr Mensch.«

Kevin:.« Echter*«

Visitor9390314: »Wollte nicht nahe treten, aber heute weiß man ja nie …« Operator is typing … Ich hab jetzt wieder ein schlechtes Gewissen. Aber eigentlich …

Visitor9390314: »Obwohl … wer weiß … Tippfehler wären ja ein raffiniertes Alibi …«

Kevin: «Der Technischendienst wird Ihnen weiterhelfen.«

Lebt Kevin? Oder wird er nach der Nachtschicht heruntergefahren?

Ich glaub, ich muss jetzt erstmal ein Bier trinken.

Und dann geh ich schlafen.

Bin neugierig, wovon ich träumen werde. Wahrscheinlich von einem Saal illegaler Einwanderer mit Headset, die sich ganz erschöpft die Augen reiben.

* * *

Um zehn Uhr schlurft Gilbert in sein Büro. Scheiß-Frühaufsteherei. Er steuert das Sideboard hinter der Tür an, auf dem die Nespresso-Maschine steht. Während der Kaffee röhrend träufelt, verscheucht er den Bildschirmschoner mit einem schlacksigen Schubser an die Maus. Er beugt sich kurzsichtig vor. 143 Kontakte. Den Namen muss er auch mal austauschen. Immer nur Kevin. Irgendwann glaubt das doch keiner mehr.

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