Unsympatische Charaktere schaffen

Die meisten Menschen sind freundlich und mögen Harmonie mehr als Dissonanzen. Das beweist alleine schon der Erfolg von Liebegeschichten. Wenn man aber auf Harmonie, Freundlichkeit und Liebe gebürstet ist, tut man sich schwer, Figuren zu schaffen, die dem so gar nicht entsprechen. Warum ist das so und wie gelingen ›unsympatische‹ Charaktere trotzdem?

Die meisten von uns ziehen Harmonie dem Streit und Liebe dem Hass vor. Wir sehnen uns danach, geliebt zu werden, und wünschen uns eine gute Welt. Gerne blenden wir im realen Leben das Dunkle, Böse, Hinterhältige, Verlogene, Grausame aus – vor allem unser eigenes – und wollen nur Schönes, Lichtes, Freude, Liebe und den dazu gehörenden Eierkuchen. Als Ausgleich schauen sich viele dafür Grusel- und Horrorgeschichten an. Diese Widersprüchlichkeit hat mich schon immer gewundert. Durch die Frage in der Facebookgruppe Autoren-Knowhow ›Ich tu mir so schwer, böse Charaktere zu schaffen, wie kann ich das?‹, angeregt, möchte ich mir ein paar Gedanken zum Thema machen. Allerdings muss ich etwas ausholen, um eine brauchbare Antwort anbieten zu können.

Bereits während meiner psychotherapeutischen Ausbildung fiel mir auf, dass es heute offenbar üblich ist, sich auf positive Ressourcen zu konzentrireren. Aber auch in diversen spirituellen Ratgebern ist immer wieder die Rede davon, man solle gut denken und gut wollen und sich überhaupt überall auf das Gute fokussieren. Daran ist ja im Prinzip auch nichts auszusetzen. Aber leider ist das meines Erachtens nur die halbe Miete, denn die andere Seite, die unerfreuliche, gibt es ja trotzdem. Es mag zwar eine Möglichkeit sein, diese unerwünschten Anteile verhungern zu lassen, aber ich glaube, das funktioniert so nicht, wie häufige Rückfälle in bereits überwunden geglaubte Gewohnheiten beweisen – sei es das Rauchen, Untreue, aufbrausendes Temperament, eine Neigung zum Lügen oder was auch immer.

Neben besagter Ausbildung hatte ich auch die Freude, eine sehr fundierte schamanische Ausbildung genießen zu dürfen. Dort liegt das Augenmerk vornehmlich auf diesen unerlösten Anteilen, also auf dem, was uns die Probleme beschert, von denen wir so schwer wegkommen. Diesen Zugang finde ich persönlich realistischer, weil er auch den Teil unserer Kraft mit einbezieht, der zwar zurzeit kontraproduktiv wirken mag, aber nichtsdestoweniger einen Teil unserer gesamten Kraft ausmacht.

Jetzt fragst du dich vielleicht, was das denn mit dem bösen Charakter zu tun hat, den du für deine Geschichte schaffen möchtest. Während viele Bereiche des Schreibhandwerks sich einfach und oberflächlich erklären lassen, vom Plot über die Perspektive bis show don’t tell, geht dieses Thema tiefer. Und zwar in deine ureigenen, persönlichen Tiefen. Es ist so wie bei Szenen für deine Geschichte: Wie sollst du über etwas schreiben, das du nicht kennst? Ist doch einfach, man recherchiert halt. Bei Orten geht das ja recht leicht, aber bei Erlebnissen nicht mehr. Wie soll man über einen nach Pinien duftenden subtropischen Abend unter leise rasselnden Eukalyptusblättern schreiben, untermalt von einem Zikadenkonzert, wenn man das noch nie erlebt hat? Genauso geht es auch mit innerem Erleben. Was man nicht kennt, darüber kann man auch schwer schreiben. Hoffnungsloser Fall, abgehakt, geht nicht? Ich glaube, man kann eine Brücke schaffen.

Die Frage zum Beginn lautet, ob du dieses Böse nicht kennst oder ob du es bewusst ausblendest. Zum Beispiel Missbrauchsopfer können sich manchmal an die Tat als solche nicht mehr erinnern, weil die Psyche sie vor einer Retraumatisierung durch Vergessen schützt. Das kann in Therapien schwierig werden, weil zwar das Trauma da, aber der Weg zur Wurzel verschüttet ist.

Ungeachtet dessen, ob man etwas auf diese Weise ausblendet oder nicht, hat jeder Mensch seine dunklen Anteile. Ich sage bewusst nicht schlechte Anteile dazu, denn das müssen sie gar nicht sein. Sie wurden nur vielleicht von unseren Eltern als schlecht hingestellt und als solche verboten, weshalb wir sie einfach immer wieder in unser Unterbewusstsein zurückdrücken, kaum dass sie sich melden. So habe ich bei Seminaren gar nicht selten erlebt, dass speziell Frauen nicht wirklich schreien können. Nicht in der Lage sind zu einem tiefen Urschrei, so richtig aus dem Bauch heraus. Logisch, denn man schreit nicht, sondern drückt sich fein sittsam aus. In diesem Fall durfte vielleicht der ›dunkle‹ Anteil von vulkanmäßigem Zornesgeschrei nie gelebt werden. Aber er ist da.

Genauso bilden sich fast immer in früher Kindheit in uns Druckkammern durch Anteile, denen wir verbieten zu sein, welche Werte auch immer das auch untersagen mögen. Damit wären wir bei beiden Teilen der Antwort angekommen: Die eine Hälfte ist die, die eventuell dunkle Anteile in einem selbst nicht zu Worte kommen lasst. Die andere Hälfte ist es, zu wissen, wie solche potentielle Bomben (bei anderen) zustande kommen. Du kannst nun als Autor zwei Dinge tun, um zur Authentizität von bösen Figuren Zugang zu bekommen.

Der eine Weg kann über dich selbst gehen. Kann es sein, dass du irgendwelchen Anteilen nicht erlaubst zu sein? Ein Beispiel dazu: Du neigst meinetwegen dazu, mal so richtig wütend zu werden und jemandem eine in die Fresse zu hauen. Aber das tut man nicht. Also schluckst du den Zorn herunter und lächelst vielleicht sogar. Eventuell wendest du dich in solchen Fällen umgehend schönen Dingen zu, um dich abzulenken. Das mag zwar funktionieren, aber dabei staut sich jedes Mal etwas innerlich auf. Dieser verpönte, aufbrausende Zorn hat aber auch eine positive Qualität: Man kann ihn für Durchsetzungs- und Überzeugungskraft nutzen und er kann uns meinetwegen beim Sport zu tollen Leistungen verhelfen. Fazit: Das sogenannte Böse in uns wird kaum weniger durch Verleugnung, sondern es will genutzt werden. Allerdings muss das nicht in der Weise sein, wie es sich üblicherweise zeigt und die vielleicht wirklich kontraproduktiv ist. Dieser Teil wäre ein eventueller Selbsterkenntnisteil, der auf dem Weg zu bösen Figur helfen könnte.

Der zweite Teil ist, wie ein Mensch böse wird. Der eben erwähnte aufgestaute Zorn baut ja mit jeder Unterdrückung weiter an einer inneren Bombe. Irgendwann geht die hoch. Oft passiert das bedauerlicherweise nach innen, dann wird gerne eine Krankheit wie Krebs daraus. Oder es passiert, ebenso bedauerlicherweise, nach außen, dann fährt jemand vielleicht mit seinem Auto in eine Menschenmenge. Beides ließe sich vermeiden, wenn es uns gelänge, mit dem, was wir durch unsere Erziehung in unsere Werteschublade ›schlecht‹ gesteckt haben, liebevoll und neutral umzugehen und es stattdessen in seiner konstruktiven Qualität zu nutzen.

Die Gründe, warum solche Aggressionen in uns aufgestaut werden, sind endlos. Vom Waisenkind, das nie die Wärme des Körpers seiner Mutter erlebt hat über ständige Du-bist-zu-nichts-fähig-Sager eines Vaters bis zum Missbrauch reicht die Palette. Es geht jedenfalls immer um Energien, die, warum auch immer, nicht fließen können.

Wenn wir nun also eine Figur verstehen möchten – und das sollten wir, dass sie glaubhaft wirkt – dann sollten wir einerseits uns selbst eventuell ein bisschen besser kennenlernen und andererseits versuchen, uns in die Vorgeschichte der Figur zu versetzen, was sie dazu getrieben hat, dass ihr innerer Druck (der sehr oft die pure Angst ist!) so groß wird, das zu sein, was in der Außenwelt dann als böse ankommen lässt.

Kleine Frage, lange Antwort und vielleicht nicht ganz so banaler Weg. Auf jeden Fall sehr, sehr spannend und immer lohnend – so, wie ja das Autor-Sein immer ein großer Weg der Selbsterkenntnis ist, wenn man ihn ernst nimmt.

Viel Spaß und – Erkenntnis dabei!

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