Der vergessene Rhythmus

Du kennst das vermutlich: Du willst eine Geschichte schreiben, aber es passt nicht – keine Zeit, keine Idee, PC kaputt, Schreibblockade. Du bleibst mitten in deinem Roman stecken – sogenannte Schreibblockade, Dinge kommen dazwischen, plötzlich ist die Luft raus. Du hast eine tolle Idee und setzt dich voll Euphorie an den PC und auf einmal zerbröselt die Geschichte wie eine Sandburg in der Sonne. Solche unerwarteten Wendungen argumentieren wir mit vernünftigen Ursachen, vom Plotfehler über Stress und Disziplinmangel bis zu allen möglichen handwerklichen Fehlern. Ich sehe das nur zu einem kleinen Teil so.

Wieder ein etwas philosophischerer Artikel zum Thema Schreiben. Es ist mir schon bei anderen Artikeln aufgefallen,  dass sich viele schwer damit tun, einmal etwas ungewöhnlichere Überlegungen in ihre Welt einfließen zu lassen. Das ist insofern schade, denn nur so kann Veränderung werden, ein Prozess, den sich die meisten wünschen, für den aber die wenigsten bewusst bereit sind. Vergiss also für ein paar Minuten die üblichen Blablas und lass uns gemeinsam in eine Welt ausßerhalb der üblichen Denke eintauchen.

Wir in Mitteleuropa leben in einer Welt die man als Matrix bezeichnen kann. Auf die Idee kam ja schon jemand :-). Ein Raster aus Zeit und genau vorgegebenen Zielen: Beziehung, Haus, Auto, Ansehen und natürlich dem alles möglich machenden Geld als ständig vor der Nase baumelnde Karotte. Aus dieser Matrix hat sich im Lauf der Jahrhunderte eine Starre ergeben, das unnatürlich ist und uns nicht guttut. Wie sich das auswirkt, bemerken wir vielleicht gar nicht so intensiv, wie es tatsächlich ist. Denn man gewöhnt sich an jeden Zustand, sobald man keinen Kontrast mehr vor Augen und Gefühl hat. Bei bewussten Hinsehen kann einem aber nicht verborgen bleiben, dass die meisten Gesichter, denen man auf der Straße begegent, hektisch, mürrisch und sorgenvoll aussehen, praktisch jeder Mensch mit irgendwelchen gesundheitlichen Probnlemen zu tun hat, es unglaublich viele Menschen mit psychischen Themen gibt, dagegen wenige glückliche Beziehungen – und wenn, dann meist nur kurz – einmal ganz abgesehen von der wirtschaftlichen und politischen Lage weltweit, die ja wirklich nicht übertrieben hoffnungmachend ist. All das hat wenig zu tun mit einem Fleckchen unberührter Natur, sei es eine Sommerwiese an einem murmelnden Bach, ein Steg an einem See, einer Alm in den Bergen oder einem einsamer Strand mit Palmen vor glasklarem Meer. Ist doch ein ganz schöner Kontrast.

Nun heißt es immer, ›die Gesellschaft lässt mich nicht so sein, wie ich gerne leben würde.‹ Das ist nur bedingt wahr. Denn ›die Gesellschaft‹ ist nichts anderes als die Summe des Wollens all ihrer Mitglieder. Also auch deines Wollens. Natürlich können wir die Gesellschaft nicht ändern … na ja, das stimmt eigentlich nicht. Wir können ihr nicht befehlen: ›sei so oder so‹, Revolution wird nicht funktionieren. Aber wir können sie sehr wohl formen im Sinne einer Evolution. Und zwar auf dem gleichen Weg, wie sie zu dem wurde, was sie ist. Und da diesen Weg dein und mein und aller Wollen bestimmt, können wir mit einem Ändern des Wollens die Gesellschaft wandeln. Klingt vielleicht nicht so spannend, weil das bestenfalls nur ein kleiner Kreis bemerkt? Wer sagt das? Waren nicht auch Gandhi und Mandela einzelne Menschen? Du siehst, es liegt nur daran, wie sehr du auch zu dir stehst.

Womit wir wieder beim eigentlichen Thema sind: diesen Knüppeln zwischen den Beinen, die flugses Entstehen unserer Geschichten torpedieren. Schon vor langer Zeit habe ich mir gedacht, wie irrwitzig es zum Beispiel ist, tagtäglich von acht bis zwölf und dreizehn bis siebzehn Uhr arbeiten zu gehen. Jeden Tag. Egal, ob es Sommer ist oder Winter, man müde ist oder dynamisch, man seine Tage hat, schwanger ist, verliebt oder jemanden verloren hat; und was der Biorhythmus dazu sagt, interessiert sowieso keine Sau. Immer acht bis zwölf und dreizehn bis siebzehn, jahraus, jahrein. Ist das nicht krank? Aber nicht genug damit, muss auch noch die Leistung immer gleich gut sein. Es ist krank, deshalb werden es auch viele, an Körper und im Kopf.

Nun haben wir Autoren uns mit dem Schreiben einer künstlerischen Richtung verschrieben, einem Gebiet, das eindeutig mehr mit Gefühlen, Fantasie und der Psyche zu tun hat, als Bilanzen und Börsenkurse. Und was tun wir? Anstatt dass wir dieses Fenster zu einer anderen Welt weit aufstoßen, lassen wir uns auch hier in den kalten Business-Sog ziehen. Wir müssen pro Tag so und so viel schreiben. Wenn es nicht klappt, dann sind daran nur Disziplin oder irgendwelche Fehler schuld. Klar, im Fehlerzuweisen sind wir klasse.

Das Schreiben als Kunst lässt sich aber nicht in einem Rhythmus abarbeiten, wie man Zahlen in eine Excel-Tabelle einklopft. Schreiben ist so wie Graswachsen. Bekanntlich hilft es bei dem schönen Grün wenig, wenn man an den Halmen zieht, denn sie werden so nicht schneller wachsen. Das Zauberwort heißt Entwicklung. Das, was wir in Berufsleben und Alltag mit Müh und Not wegdrücken können mit Kraft, Ausdauer und Disziplin, lässt sich bei Kunst nicht so einfach befehlen. Mit dem Schreiben müssen wir etwas tun, das uns verdammt schwerfällt: wir müssen zurückstecken und uns bewusst weden, dass wir nicht die großen Macher sind. Wir müssen lernen, den Fluss wiederzufinden, der uns als Geschenk für sein Wahrgenommenwerden Inspiration und Genialität zurückgibt. Wenn er es will.

Ich habe das selbst über die Jahre beobachtet: Es gibt Zeiten, da entsteht in zwei Wochen ein Roman von 300 Seiten, an dem nur wenig zu überarbeiten ist. Dann wider spießt es sich mitunter monatelang. Es bringt nichts, mit Gewalt zu versuchen, was momentan einfach nicht dran ist. Natur ist eine Vielfalt unterschiedlichster Rhythmen. Es gibt sie schon viel, viel länger als unser banales Wichtigsein. Wenn wir wieder lernen, den Rhythmus der Dinge wahrzunehmen und ihn für uns zu nutzen – nicht nur beim Schreiben – erfahren wir, wie sich auf einmal alles wie von selbst fügt und Geschichten vor unseren Augen wachsen. Vielleicht nicht dann und so, wie wir es wollen, aber sicher zu unserer Freude.

All diese eingangs erwähnten Widrigkeiten sind nichts anderes als kleine Signale, dass wir den Kontakt zu dem Fluss verloren haben. Natürlich können wir versuchen, es wieder einmal mit Gewalt durchzudrücken – wir kennen’s ja nicht anders – aber ich denke nicht, dass das auf Dauer befriedigt. Ich glaube, es ist eine gute Idee für gute Geschichten, sich nicht nur mit dem Handwerk zu beschäftigen, sondern auch mit dem Reifen und Werden.

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