Die Verbindung zum Leser

Jeder kennt das: man liest ein Buch und wird in die Geschichte gezogen wie eine Hausstaubmilbe in einen Staubsauger. Und eine andere, vielleicht toll geschrieben, lässt einen kalt wie eine Hundeschnauze. Bei einer leidet und freut man sich mit, ist zutiefst berührt, bei einer anderen mit vielleicht dramatischem Schicksal möchte man gerne mitfühlen, weil es eben so dramatisch ist, aber es gelingt einfach nicht. Woran liegt das? Brav geshowt anstatt getellt? Auch, aber nicht nur.

Diesemal keine Philosophie, sondern Psychologie :-) Und zwar eine, die wir beim Schreiben im Hinterkopf behalten sollten.

Hast du schon einmal von einem Teich aus ins Wasser geschaut und dort einen Schwarm Fische beobachtet? Also der Steg ist egal, auf den Fischschwarm kommt es an. Zoo geht also auch oder Schnorcheln in Hurghada. Fischschwäre haben ein auffälliges Verhalten. Selten bewegen sie sich langsam und gemütlich in eine Richtung vorwärts, sondern sie brechen gerne mal dahin und dorthin aus, irren scheinbar grundlos und planlos umher. Man könnte annehmen, es wären große Fische oder andere Feinde, die sie dazu bewegen. Manchmal wohl auch, aber der Hauptgrund ist ein anderer, wie Verhaltensforscher herausgefunden haben.

Bei eijnem Schwarm ist immer ein Fisch der Leitfisch. Kein besonderer, es kann jeder sen. Die Lizenz zum Leitfisch erhält der, der a) weit genug vom Schwarm entfernt ist, damit er einen merkbaren Abstand hat und b) der, der nicht so weit vom Schwarm entfernt ist, dass er den Kontakt zu ihm verliert. Der Zickzackkurs entsteht dadurch, dass umgehend ein anderer Fisch zum neuen Leitfisch wird, wenn einer sein Boss-Kriterien nicht mehr erfüllt, ein anderer  hingegen schon.

Was können wir uns fürs Schreiben aus dieser Tatsache herausziehen? Ein Maximum von Andersartigkeit und Herausforderung bei noch möglicher Nachvollziehbarkeit seitens der Leser. Eine Spannung, aber nicht so groß, dass das Gummiband reißt.

Schön kann man das bei Methaphern beobachten. Das glühende Rot eines Sonnenuntergangs kennt vermutlich jeder. Das glühende Rot geschmolzenen Stahls vermutlich wenige – abgesehen davon, dass das beinahe weiß ist. Eine Monsterdrohne, die dich in die Luft hebt, kannst du dir vermutlich vorstellen. Ein Fluggefährt, das dasselbe völlig lautlos fertigbringt schon weniger. Eine Welt mit Wesen wie in Avatar, die unter der Entweihung ihrer Heimat leiden, ist gut nachvollziehbar. Eine mit Wesen mit drei Köpfen, von denen einer lacht, einer weint und einer brüllt … na ja, also ich finds nur seltsam.

Bei Dingen, die wir kennen, können wir sofort einhaken. Kurz sehen, aha, kenn ich, alles klar. Was wir nicht kennen, benötigt eine große Portion an Flexibilität und vor allem den Willen, es navollziehen zu wollen. Und gerade bei Unterhaltungsliteratur sind wir oft nicht daran interessiert, die aufzubringen. Aus diesem Grund zum Beispiel werden romantische Geschichten bessere Umsätze erzielen, als welche die zwar wortgewandt und interessant, aber kompliziert sind.

Ich habe das zum Beispiel bei Patchwork erlebt. Dort gibt es anstatt zweijährlicher Updates, wie das von den meisten Programmen bekannt ist, Update-Abos. Man kann quartalsweise ein Abo buchen, im Vorhinein oder Nachhinein und dann einfach, wenn man will, circa monatlich Updates in diesem Zeitraum holen. Das ist viel praktischer für alle Beteiligten, bringt eine Menge Vorteile. Aber beinahe jeder runzelt zumindest die Stirn. Von  Missverständnissen à la ›Ich will kein Mietprogramm‹ bis zu Beschimpfungen habe ich alles erlebt. Und dann kann man noch bei gleicher Leistung zwischen fünf Preisen wählen – vom Sozialpreis für Wenigstverdiener bis zum teureren Wertschätzungspreis. Alles in allem ein System, von dem ich immer wieder abgeraten bekomme, da es zu kompliziert und unverständlich sein soll. Ich weiß, würde ich danach gehen, einfach schnell Geld zu machen, dann sollte ich etwas Ungewohntes sofort abschaffen und es wie die anderen machen, denn das kennt man. In diesem konkreten Fall ist mir aber der Service wichtiger, selbst wenn ich dadurch den einen oder anderen Kunden nicht gewinnen kann.

Bei Geschichten ist es nicht anders. Schreib eine esoterische Geschichte auf Basis der Bibel oder des Koran oder der Veden, dann ist alles klar. Aber schreibst du sie aufgrund eigener Gedanken, wird sie schwer funktionieren. Außer – der Abstand ist nicht zu groß. Ich denke, vor allem bei Fantasy ist das ein großes Thema. Aber auch bei anderen Genres. Gruselgeschichten mit Vampirzähnen, Fledermaushorden und Killerwelpen funktionieren nicht so gut. Sie sind entweder übertrieben oder unglaubwürdig. Hingegen der Film ›Die neun Pforten‹, den ich mir vorhin angesehen habe, macht das ganz gut: vieles ist völlig normal, der Taxifahrer, der Bäcker, die Gastwirtin. Doch dann geschehen seltsame Ereignisse. So gruselig habe ich ihn jetzt zwar nicht gefunden, aber immerhin mehr als Dracula.

Bei der Nachvollziehbarkeit sind natürlich auch der Zeitgeist und das soziale Umfeld sowie die Kultur ausschlaggebend. Für uns sind Bollywoodfilme schnell mal schrecklich schwulstig. Inder sind beim selben Film zu Tränen gerührt.

Packende Geschichten gelingen dann, wenn wir es schaffen, dem Leser eine Welt zu präsentieren, die von seiner ein Stück abgerückt ist (Millionäre, rasende Züge über Abgründen oder eisiger Wind im Camp auf 7.000 Metern Höhe) aber die mit Bildern und Gefühlen arbeiten, die wir kennen (Sehnsucht, Begehrlichkeit, Höhenangst, Frieren).

Man spricht nicht umsonst davon, man solle eine Nasenlänge voraus sein. Nicht eine Armeslänge – auch wenn jeder beides kennt. Sei also deinen Lesern mit deinen Geschichten diese Nasenlänge voraus in Richtung ihrer unerfüllten Wünsche und sieh zu, dass es keine Armeslänge wird.

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