Die geheimnisvolle Miss Suspense

Bücher, die wir gerne gelesen haben, sind meistens spannend. Auch Nicht-Krimis. Es geht nämlich nicht um diese offensichtliche Spannung, sondern um die, die in Literatur- und Theaterkreisen als Miss Suspense bekannt ist (also ohne Miss). Sie ist oft eine unbekannte Unverstandene. Machen wir ein paar Schritte auf der Spur ihres Geheimnisses und warum es eines ist.

Mal ganz allgemein: Anspannung und Ruhe sind die beiden Pole, zwischen denen alles Leben pendelt. Zwischen Schlaf und Wachsein, zwischen Hundertmetersprint und Couchliegen, zwischen Erschrecken und Erleichterung, Chaos und Homöostase. Der Rhythmus zieht sich durch alles, wenn wir genauer beobachten. Er ist lebensnotwendig, denn er bedeutet Kontrast. Ohne Kontrast sind wir nicht in der Lage, Veränderung zu erkennen. Meine Urgroßmutter pflegte auf ihre einfache, weise Art zu sagen ›Immer schön angezogen ist nie schön angezogen‹. Ich selbst erlebte es anders, als ich bewegungslos neben einer Frau lag, Haut an Haut. In diesem Zustand konnte ich nicht fühlen, wo ich selbst aufhörte und sie begann, ja nicht einmal, ob sie neben mir lag. Beides wurde erst spürbar, wenn ich mich zumindest geringfügig bewegte. Und – off topic – ich denke, es ist kein Zufall, dass Reibung und Reifung so wortverwandt sind.

Auslöser für diesen Artikel waren meine Gedanken aufgrund Jojo Moyes’ Buch Nächte in denen Sturm aufzieht. Sie wendet darin eine Technik an, die einen ständig zwischen den zwei Lebenspolen pendeln lässt.

Da ist der eine, die Suspense. Bei Suspense handelt es sich nicht um die im Wörterbuch angeführte ›Spannung‹, diese hochvoltige Elektrizität, die einen beim Thrillerschauen zum Nägelbeißen zwingt. Suspense ist eine hintergündige, allerdings ebenfalls elektrische Energie, eine sanft zitternde Anspannung. Sie ist eine Verwandte von Erwartung und der Unzufriedenheit, wenn man einen Faden nicht durchs Öhr bringt oder betrunken das Schlüsselloch nicht trifft. Ihre Artikulation lautet ›zum Henker nochmal‹. Wie erreicht man diese Suspense (obwohl sie im Deutschen femininen oder maskulinen Geschlechts sein kann, ist sie für mich unzweifelhaft eine Frau)? Beobachten wir dazu das echte Leben. Abgesehen von Faden und Schlüssel kommt diese Stimmung zum Beispiel dann auf, wenn jemand etwas andeutet, aber man nicht erfährt, worum es geht. Wir stehen zu dritt beisammen, Bekannter A sagt zu B: ›Wie findest denn du, was sich Klaus geleistet hat?‹ B: ›Echt ein starkes Stück!‹ Und ohne Übergang wollen A und B gemütlich mit mir über die Party am kommende Wochenende plaudern. Ich stehe da, keine Ahnung, worum es geht. Shit! Ich will es wissen! Unbedingt. Man darf doch wohl noch neugierig sein, oder? Das ist Suspense.

Jojo Moyes erreicht sie, indem die Situationen so (be)schreibt, wie sie tatsächlich geschehen. Klar, wie sonst? Nein, das ist gar nicht klar. Viele, vor allem Anfänger, neigen dazu, alles erklären zu wollen, und das möglichst sofort. Der Leser muss doch wissen, warum sie stottert und warum er nasse Hände bekommt, wenn er eine Frau in Karoschürze sieht. Deshalb wird vielleicht gleich eine Rückblende eingeschoben, um schon im Vorfeld jede Unsicherheit zu vermeiden. Und Suspense natürlich auch.

Was geschieht bei dem Wunsch eines Autors, alles erklären zu wollen? Etwas völlig Natürliches: Wir haben (fast) alle das Bedürfnis nach Harmonie, Freude, Liebe und Eierkuchen. Wir wollen auch nicht verletzt werden. Und wir lieben unsere Leser. Deswegen wollen wir ihnen nur Gutes tun, denken, so mit unseren Leser umgehen müssen: Ja keine Ungewissheit aufkommen lassen. Oder steckt das Bedürfnis dahinter, selbst nicht unglaubwürdig zu scheinen? Egal, Hand aufs Herz, sind stets problemlose Beziehungen nicht ein bisschen öd? Vielleicht ein bisschen viel öd? Können wir Freude nicht erst dann fühlen, wenn sie sich als Kontrast neben ein anderes Gefühl stellt? Wiedersehen nach Getrenntsein, Versöhnung nach Meinungsverschiedenheit, Erleichterung nach Missverständnisaufklärung? Immer nur freuen wäre wie immer nur schön angezogen sein. Fad, öd, schal.

Wieder zurück zu Jojo Moyes. Sie lässt ihre Figuren so reden, wie sie das unbeobachtet im echten Leben würden. Vieles wird beim Gesprächspartner als bekannt vorausgesetzt. Sie erklärt keinesfalls sofort, warum jemand so oder so reagiert oder was dies oder jenes bedeutet. Unauffällig wird mit jeder dieser Unterlassungen ein kleiner Suspend-Same gepflanzt. Ich komme mir beim Zuhören vor, als besiedelten mich ständig unschuldig scheinende Löwenzahnschirmchen. Unschuldig – ha! Sowas von lästig! Ich will auch mit dabeisein, ja?!

Und dann der Gegenpol. Die Erleichterung beim Lesen beziehungsweise Hören der Auflösung. Ebenso beiläufig wird das Schirmchen entfernt, wie es vorher gepflanzt worden ist. ›Ahh‹ seufzen und zurücklehnen. Ah soo … ja dann … na klar … Entspannung … mhhh!

Und was haben wir beobachtet? Genau: die beiden Pole Anspannung und Ruhe direkt bei der Arbeit.

Viel Spaß beim Schreiben und Einweben von Suspend-Samen!

 

Zur Übersicht des Schreibblogs

Schreibe einen Kommentar