Erzählzeit

Bekanntlich kann man in mehreren Perspektiven schreiben, aber auch in verschiedenen Zeiten. Die am meisten verwendeten sind Gegenwart und Vergangenheit. Was aber, wenn wir in der Vergangenheit etwas beschreiben, was auch heute gültig ist?

Wir sitzen beim Schreiben, die Geschichte handelt in der Vergangenheit. Wir verwenden dafür das Imperfekt (oder Präteritum), er machte, sprang, sang, freute sich und litt. Auf einmal tauchen zwischendurch Situationen auf, die … hm … heute auch noch so sind. Wenn wir logisch mitdenken und entsprechend schreiben, entstehen Sätze wie: »Rambo stand im Schatten des Kirchturms, den Revolver locker in seiner Rechten. Unwirsch blickte er in Richtung Sonne, die sich unbarmherzig anschlich und ihn bald seiner Tarnung berauben würde. Denn sie steht nun mal zu Mittag senkrecht und wirft keine Schatten.«

Ist dir was aufgefallen? Genau. Die Sonne stand damals zu Mittag senkrecht, tut es heute und wird es vermutlich auch morgen noch tun. Ist doch völlig okay, das dann auch als allgemeingültige Gegebenheit einfließen zu lassen. Oder? Warum sollte der Satz so lauten: »… Denn die Sonne stand nun mal zu Mittag senkrecht und warf keine Schatten.«? Tat sie das denn nur damals?

Für einer Geschichte wählen wir uns Perspektive, aber eben auch Erzählzeit aus. Daran denken wir bewusst kaum: Mit beidem schaffen wir eine Blase, in der sich der Leser behaglich einrichtet. Es ist nichts Neues, dass wir Menschen Gewohnheitstiere sind. Veränderung hat zwar etwas Abenteuerliches an sich, und wir mögen Abenteuer, aber beim Lesen wünschen wir uns Geborgenheit, wollen in diese ferne Gegend wegtauchen – je ferner, je besser – und dort so lange wie möglich träumen. Deshalb reagieren wir mitunter unwirsch, wenn uns wer beim Lesen unterbricht.

Wir leben während des Lesens in einer eigens dafür geschaffenen Blasenwelt. Einen großen Teil der Hülle dieser Blase bildet die Erzählzeit. Wir schlagen das Buch auf und begeben uns in die Vergangenheit, wo wir uns häuslich niederlassen. Tauchen nun auf einmal Passagen auf, die in eine andere Zeit zeigen, wirkt das wie ein Riss in unserem aktuellen gedanklichen Zuhause und es zieht kalte Luft herein. Wir werden in die ›Realität‹ gestoßen; denn ›jetzt‹ ist nun einmal die Gegenwart. Und die Gegenwart ist genau die Zeit, die wir ja verlassen wollten. Aus diesem Grund mögen manche Menschen zum Beispiel Geschichten weniger, die im Präsens handeln, denn mit ihnen sind wir nicht weit genug weg vom Jetzt . Ähnlich verhält es sich übrigens auch mit der Ich-Perspektive, aber das ist eine andere Geschichte. Auch wenn man in dieser Zeit – beziehungsweise Perspektive – näher an der Figur ist. Aber ganz tief in unserem Inneren versichert uns der Es-war-einmal-Effekt, dass alles gut ist oder wenigstens wird. Schließlich (er)leben wir meist auch heute noch das, was wir als Kind gelernt haben – auch wenn es nicht mehr immer angemessen sein mag.

Und wie geht es mit Gedanken, die ein Protagonist denkt, der in der Vergangenheit handelt?

Damit kommen wir einem anderen Thema ins Gehege: wie erzähle ich Gedanken? Aber vielleicht ist es ganz gut, dem Thema auch hier zu begegnen. Nehmen wir wieder einen Beispielsatz: »Savannah schlenderte durch den scherenschnittartigen Schatten, den die Bäume um sie auf den Boden malten. Ab und zu segelte ein Kirschblütenblatt in der duftenden Brise. Warum kann Jon nicht hier sein? Ich fühle mich, als hätte ich gar keine Beziehung.«

In einem anderen Artikel erzählte ich etwas über die Kursivsetzung von Gedanken. Von dort her weißt du, dass diese Methode suboptimal ist. Hier stellt sich heraus, dass sie doppelt ungünstig wirkt. Wieder wird der Leser aus seiner behaglichen Erzählblase gerissen. Zwar wirkt auf den ersten Blick das Kursive mit Präsens figurennäher, aber aus eben erwähntem Artikel wissen wir, dass diesem Vorteil vier Nachteile gegenüber stehen.

Also auch hier wäre der Satz so leserbehaglicher: »Savannah schlenderte durch den scherenschnittartigen Schatten, den die Bäume um sie auf den Boden malten. Ab und zu segelte ein Kirschblütenblatt in der duftenden Brise. Warum konnte Jon nicht hier sein? Sie fühlte sich, als hätte sie gar keine Beziehung.«

Ganz am Rande können wir hier auch noch einen weiteren aufschlussreichen Effekt beobachten: Bezüge betreffende Begriffe wie ›hier‹, ›dort‹, ›morgen‹, ›vorhin‹ haben unverändert Gültigkeit, egal, in welcher Zeit sie verwendet werden. Eben weil die Zeit nur ein Transportmittel in die Blase hinein ist. Schön drückt das Käthe Hamburger in ihrem Buch aus (siehe Link unten): Dabei verliert das Präteritum “seine grammatische Funktion, das Vergangene zu bezeichnen”.

Wer mehr zum Thema lesen, beziehungsweise hören mag, dem seien diese Links empfohlen:

  • Auszug aus der ›Theorie‹ des epischen Präteritums von Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1968
  • Podcast bei Belles Lettres ›Standardtempus im Roman‹

Es gibt sehr seltene Ausnahmen, wo die Vergangenheitsform trotzdem seltsam klingt. Die sind aber so selten, dass mir aktuell gar kein Beispiel einfällt. Wenn ja, dann werde ich das hier ergänzen (aber das wird dann keiner mehr lesen :-) )

 

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  • karinhenningsen

Ein paar Kommentare zu “Erzählzeit

  1. elsa

    Sehr guter Artikel, lieber Martin.
    Ich überlege gerade, wie es mit vorhandenen Gebäuden gehen könnte.
    Der Stephansdom wirft seit Jahrhunderten um 17h seinen langen Schatten über den Platz. Sie spazierte mitten durch. Blödes Beispiel, aber du weißt, was ich meine.

    Benutzer, die diesen Beitrag geliked haben

    • martin
    1. martinmartin Autor des Beitrags

      Hey Elsa,

      dankeschön!

      Bei deinem Beispiel ist die Erzählzeit das Imperfekt. Also sollte es heißen: ›Der Stephansdom warf seit Jahrhunderten um 17h seinen langen Schatten über den Platz. Sie spazierte mitten durch. Blödes Beispiel, aber du wusstest, was ich meinte.‹ Okay, der zweite Satz nicht wirklich :-)

      Liebe Grüße
      Martin

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