Szenen – Bausteine im Schatten

Es wird von Plots geredet, von Wörtern die man soll und nicht soll, von zu langen Sätzen und Spannungskurven, ganz vorne im Ranking von Rechtschreibung und Grammatik – aber von Szenen? Von denen redet kein Mensch. Dabei sind sie die Grundbausteine jeder Geschichte, vom Theaterstück über Romane bis zum Film. Ich möchte den Szenen gerne etwas Bühnenlicht zukommen lassen.

Kein Witz, es ist aber wirklich komisch, finde ich. Überall liest man zum Beispiel von ersten Sätzen und einem gelungenen Einstieg in ein Buch, damit uns der Leser auch auf den kommenden Seiten erhalten bleibt. Dass aber auch dieser Anfang einer Geschichte eine Szene ist, darüber habe ich konkret noch nie gelesen.

›Du schlenderst über die Steinplatten einer kleinen Piazza, ein paar Stufen aufwärts, und dein Blick weitet sich links rund rechts in den schmalen Schacht eines der zahllosen Rii, unten Wasser, oben Himmel, seitlich Häuser mit spitzbogigen Fenstern und dunkelgrünen Fensterläden. Du genießt die deinem Alltag abgerungene Wochenendzeit in der Stadt der Liebe und der vielen Namen. Du stutzt. Blickst um dich. Deine Ohren haben zarte Klänge aufgefangen, deren Traurigkeit sich in dein Herz senkt. Du runzelst die Stirn. Es will dir nicht in den Sinn kommen, wie diese magische Musik entstehen mag. Die Neugier dreht deinen Kopf und lenkt deine Beine, hinunter von der Ponte, eine Gasse entlang, der Klang gewinnt an Fülle. Du biegst um die Ecke eines Patrizierhauses, dessen Wände der Regen und Salzwasserdunst jahrzehntelang gezeichnet hat und deine Beine verharren auf der Stelle.

Dunkelgraublau und senkrecht ein Mann, an dem alles ein wenig rund ist. Hellglitzernd und waagrecht eine Schar von unterschiedlich großen Gläsern mit unterschiedlich viel Wasser befüllt. In der Mitte zwei bleiche Hände, ein eigenständiges, tanzendes Wesen, würde sie nicht der wachsame Blick des Mannes als zu ihm gehörend enthüllen. Behände eilen die Kuppen der ausgestreckten Finger von Glas zu Glas und es fühlt sich für dich an wie ein Dialog, bei dem die Finger fragen und das Glas spricht. Als du deine Augen bis auf einen Spalt schließt und das Bild unscharf wird, glaubst du, die zarten Töne der Wasserharfe fortschweben zu sehen von Mann und Gläsern, die Gasse entlang, über den Rio zur Piazzetta, auf der Suche nach Ohren, wo sie sich niederlassen können.‹

Eine Szene. Oder zwei? Genau betrachtet zwei, weil wir es mit einem Bild-(Orts-)wechsel zu tun haben, aber die beiden gehören eng zusammen. Also werden es nur zwei Absätze (die hier leider wegen der Standardformatierung wie leerabsatzgetrennt aussehen).

Kennst du Fraktale? Es handelt sich dabei um Objekte, die sich in verkleinerter Form immer wieder selbst darstellen. Wie im Großen, so im Kleinen. Und umgekehrt. (Mir) unverständlicherweise wird dieser häufig im gesamten Universum zu beobachtende Effekt genauso hartnäckig übersehen wie Szenen. Szenen sind kleine Bausteine, bestehend aus noch kleineren, gleichzeitig größere – Kapitel – bildend, noch größere in Form von Büchern, die ihrerseits Bibliotheken füllen. Nichts in dieser Reihe darf fehlen, alles darin ist notwendiger Bestandteil. Über Wörter lassen wir uns massenweise aus, über zu lange oder zu geschachtelte Sätze, über Kapitel, über Novellen, Romane und Mehrteiler, nur dieses eine Teil, die Szene fristet irgendwie ein als selbstverständlich betrachtetes Schattendasein.

Aber auch nur bei Büchern. Im Theater gibt es eigens Bühnenbildner, die Szenen aufbauen, im Film Cutter, die Szenen zusammenschneiden. Beim Roman? Aber kommen wir doch endlich zum Punkt, denn sicher ist jetzt jedem klar, dass es irgendetwas mit der Szene auf sich hat.

Wie Bausteine bei einem Haus eine ganz bestimmte Aufgabe haben, ist es auch bei den Romanbausteinen. Ihre Aufgabe ist nicht nur, ›Material‹ für das Haus ›Geschichte‹ zu liefern, sondern, auch wie bei einem Haus, ist ein solcher Baustein einereits in sich abgeschlossen, aber andererseits ein aufbauender Teil des Ganzen. Wie die Dynamik des Fraktals rechts im Großen wirkt, so wird diese Wirkung doch durch all ihre Teile erst möglich, jedes für sich ein Kunstwerk.

Sobald man sich mit Szenenstruktur beschäftigt, wird man auf den Sohn eines amerikanischen Eisenbahntelegrafisten stoßen, dessen Ausführungen zum Thema auch heute noch wegweisend sind. Allzuviel möchte ich mich hier aber gar nicht dazu auslassen, das haben andere schon genug getan. Du brauchst nur mit dem Suchbegriff Dwight Swain Szenen ins Netz zu gehen. Trotzdem kurz, worum es geht.

 

Makro- und Mikrostruktur von Szenen

Swain spricht von zwei Szenentypen, Scenes und Sequels, was ich hier sinngemäß übersetzen darf als Auslöser und Folge (oder Ursache und Wirkung). Also ein sehr achaisches Wechselspiel. Wie sich unschwer vermuten lässt, geht es um einen Ping-Pong-Effekt, die Kollegen wechseln sich also ab. Swain geht aber noch etwas weiter und gibt jedem der drei Typen eine innere Struktur. Das sieht dann so aus (jeweils dahinter kursiv ein paar Stichworte):

Die Auslöserszene besteht aus

  • Ziel               verständlich und nachvollziehbar, konkret, lohnenswert bis zwingend, möglich, aber schwer erreichbar
  • Konflikt         wichtigster Teil (ca. ¾ der Szene), Hindernisse, anstrengend, aufreibend, spannend
  • Rückschlag  Tja … Pech gehabt – Mist … ›› wie geht’s weiter??  › › ›  konkret, überraschend, frustrierend

und im nächsten Szenenblock (Folge) dürfen wir die Suppe auslöffeln. Sie bildet den Übergang zur wieder nächsten Auslöserszene.

  • Reaktion        emotionale Folge, zuerst impulsiv-unreflektiert, dann überlegter, bis …
  • Dilemma         … (wenige) Optionen überlegt werden, neu- und umgeplant, schwere Entscheidung zwischen … und …? getroffen werden
  • Entscheidung zeigt Typisches der Figur! Kann spannend sein, wenn offensichtlich falsch oder riskant oder unmöglich …

 

Szenenwechsel

Szenen wechseln, wenn

  • die Perspektive,
  • die Zeit,
  • der Ort

wechseln.

Beim Wechsel gibt es unterschiedliche Wichtigkeiten. Damit kann man dem Leser die Änderung ankündigen und auch gleich das Gewicht des Wechsels mitteilen. Bei Patchwork gibt es deshalb diese Wechsel:

  • Ein neues Hauptkapitel beginnt auf einer neuen Seite mit einer Überschrift und gelangt ins Inhaltsverzeichnis
  • Ein neues Unterkapitel beginnt nicht auf einer neuen Seite mit einer Überschrift und gelangt optional ins Inhaltsverzeichnis
  • Ein großer Szenenwechsel hat zur nächsten Szene eine Zeichenfolge, gerne drei Sterne * * * oder eine kleine grafische Vignette
  • Ein mittlerer Szenenwechsel trennt die Szene zu nächsten mit einem Leerabsatz ab.
  • Der ausständige kleine Szenenwechsel ist unsichtbar (ein normaler Absatz) und bietet hier nicht interessante interne Möglichkeiten

Sich über den Wechsel Gedanken zu machen, lohnt ebenfalls, weil wir so den Leser einfacher vor Verwirrung schützen können. Zur Erleichterung kann man immer Szenenbilder im Theater im Hinterkopf behalten. Im Umkehrschluss sollten innerhalb einer Szene niemals Perspektive, Ort oder Zeit wechseln.

Patchwork unterstützt die Szenenorientierung konsequent bis zur Hilfe beim Layout, die sich folgerichtig ergibt. Aus der Kombinations Handlungsdatum und Protagonisten-Geburtsdatum lässt sich sogar zur Szene das jeweilige Alter der Figuren anzeigen. Eine ganze Fülle weiterer Überlegungen sind szenenbezogen, aber das würde den Rahmen bei weitem sprengen. Durch den Plot planen wir die große Struktur, über die Szene verleihen wir den Bausteinen Qualität.

Viel Freude bei der Bewusstheit von und innigen Freundschaft mit deinen Szenen!

 

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Ein paar Kommentare zu “Szenen – Bausteine im Schatten

  1. dagmardagmar

    Was ich mich bei Swain immer frage, ist: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Swain beschreibt, was es schon gibt, und dann sagt er, man soll das genauso nachmachen. Ist das sinnvoll?

    Einerseits ja, sicher. Aber andererseits empfinde ich gerade diese Vorgaben als extrem einschränkend, wenn man über eine Geschichte nachdenkt. Anti-kreativ sozusagen. So logisch und Schritt für Schritt denkt man ja nicht, man denkt in großen Zusammenhängen, in Gefühlen, in Liebe oder Hass für seine Figuren, in Bildern bezüglich der Zusammenhänge zwischen den Figuren und Aktionen. Wenn ich dann darüber nachdenken muss, wie das in Swains Schema passt, verplempere ich damit viel Zeit, in der ich schon schreiben könnte, denn alles, was Swain da vorgibt, ist ja nur gesunder Menschenverstand.

    Logischerweise muss eine Wirkung eine Ursache haben, eine Folge oder Konsequenz einen Auslöser. Sonst hat man ja gar keine Geschichte. Wenn man aber anfängt, darüber nachzudenken und das zuordnen will, kommt man ganz schnell durcheinander.

    Deshalb komme ich an diesem Punkt auch in Patchwork durcheinander. Ist das, was ich gerade schreibe, ein Unterkapitel, ein großer Szenenwechsel, ein mittlerer oder ein kleiner? Denkt man darüber beim Schreiben nach? Nein. Ich soll es aber markieren. Ohne dass ich es weiß. Üblicherweise besteht bei mir ein Kapitel aus einer Szene. Die Szene ist das Kapitel. Manchmal in Ausnahmefällen hat ein Kapitel zwei Szenen, mehr fast nie. Und in einem fiktionalen Text Unterkapitel? Das ist doch eher etwas für Sachbücher.

    Wie gesagt: Ich finde das verwirrend. Üblicherweise brauche ich nur Kapitel. Wenn ich Szenen habe, dann sind die natürlich gleichberechtigt, nicht groß, mittel oder klein. Wo sollte da die Unterscheidung sein? Eine Szene ist eine Szene. Was unterscheidet eine große von einer mittleren? Die Länge? Aber selbst wenn: Was für eine Bedeutung hat das? Wie gesagt: Szene ist Szene.

    Ich sagte ja schon mal, Patchwork ist für Liebesromane wie mit Kanonen auf Spatzen schießen. Trotzdem versuche ich solche Dinge immer zu verstehen. Aber in dem Fall fehlt mir da der Zugang. Ebenso wie zu Fraktalen. Die habe ich schon früher nie verstanden, wenn Leute ganz begeistert darüber berichteten, sie hätten Fraktale programmiert. Da saß ich dann immer stirnrunzelnd da während meiner Programmierausbildung und habe mich gefragt, was denn so toll daran ist, dass bei den Leuten richtig die Augen leuchteten. :)

    Aber ehrlich gesagt habe ich diese Aussage nur von Männern gehört. Fraktale sind also wohl etwas, was Männern etwas sagt und sie begeistert, uns Frauen aber verschlossen bleibt. :)

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    • h.teterra
    1. martinmartin Autor des Beitrags

      Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn du ›man‹ durch ›ich‹ ersetzt hättest. Wir sollten nie vergessen, dass jeder Autor anders ist. Den einen mag es gehen wie dir, andere hingegen finden konkrete Strukturen hilfreich.

      Dass Fraktale allerdings Frauen verschlossen bleiben, ist mir neu.

  2. Thomas 72Thomas 72

    Ich habe meinen ersten Roman komplett in Word geschrieben. Da ich die Geschichte wie einen Film im Kopf visualisiert und dann nur noch beschrieben habe, was sich vor meinem geistigen Auge abgespielt hat, bin ich da schnell an Grenzen gestoßen. Ich bin durcheinander gekommen, musste ständig zurückblättern usw. Ich bin noch in der Testphase von Patchwork, muss aber eingestehen, dass mir die Arbeit in Szenen sehr gelegen kommt. Ich habe eine Situation vor Augen, beschreibe sie und überlege, was die Figuren nun als nächstes tun würden. Nächste Situation, nächste Szene. Wie im Film. Vielleicht klappt das bei mir, weil ich ein Mann bin :-)

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    • martin
  3. vons7vons7

    Mich regt es bei Büchern jedes mal ein wenig auf, wenn ich 38 Kapitel habe, die aber eigentlich nur Szenen sind.
    Dabei ist das verstehen doch so einfach (und hat sicher nicht das geringste mit dem biologischen Geschlecht zu tun).

    Szenenwechsel, wenn ich den Handlungsort wechsle (Ich habe eine Szene im Wohnzimmer, Protagonist geht danach in den Garten und trifft dort eventuell auch andere Personen), wenn zwischen den Handlungen nicht erzählte Zeit liegt (Die Szene im Garten ist abgeschlossen, es war in der Mittagszeit, jetzt haben wir aber bereits Abend).

    Ein Kapitel kann aus vielen Szenen bestehen, oder aber aus nur einer einzigen. Das kommt darauf an, was ich pro Kapitel erzähle. Dabei ist es mir beim Schreiben erst einmal nicht wichtig, ob ich Auslöse- oder Folgeszenen schreibe. Ob es eine kleine, große oder eine Unterszene ist, merke ich hingegen fast sofort. Ebenso, wenn die Szenengeschichten rund sind und ich ein neues Kapitel anfange.
    Ich finde Patchwork genau deswegen so toll, weil ich in Szenen arbeiten kann.

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    • martin

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