Anstoß für diesen Artikel waren die Antworten auf eine Frage, die ich auf Facebook in der Gruppe Autoren-Knowhow stellte: »Geschichten sind wie Kinder: Es ist wichtig, dass man ihnen ihre Grenzen zeigt – was fällt dir dazu ein?« Die Antworten waren so interessant wie vielfältig.
Eine Geschichte erziehen? Kinder erziehen? Und was hat das miteinander zu tun? Und – eine Geschichte … was? Erziehen?
Mittlerweile sind Eltern schon dahinter gekommen, dass sie mit einer Laissez-faire-Erziehung, wie sie ab den 60ern eine Zeitlang modern war, ihren Sprösslingen nichts Gutes tun. Zwar ist es für ein Kind wichtig, Selbstständigkeit zu lernen, was aber nicht bedeutet, dass es alles tun können sollte, was es gerade will. Das Ergebnis wäre im schlimmsten Fall ein selbstüberschätzender Tyrann und im besten ein lebensunfähiger Mensch – oder umgekehrt. Warum? Das ganze Leben spielt sich innerhalb von Grenzen ab: die eigenen Fähigkeiten, Möglichkeiten und das Umfeld, in dem wir uns bewegen. Vermittelt man Kinden im Rahmen des geschützen Bereiche ›Zuhause‹ den Eindruck, sie könnten nach Belieben tun, was sie gerade wollen, müssen sie später nachholen, was sie versäumt haben und das kann hart werden.
Aber was hat das bitte mit meiner Geschichte zu tun? Gerade beim Neueinstieg ins Schreiben verhalten sich Autoren gerne so wie Eltern einem Kind oder neuen Haustier gegenüber: Sie beobachten mit Begeisterung, was das kleine Wesen entdeckt, wie es auf sie und die Umgebung reagiert, wie sie mit ihm interagieren können. Alles ist neu und unglaublich, interessant und beglückend. Die junge Autorin beobachtet staunend, wie ihre Figuren Eigenleben entwickeln und bemerkt mit schmunzelndem Glück, wie sich auf einmal die Figur ihren Vorstellungen widersetzt und eigene Wege einschlägt. Und wie wie nun mal ist, folgt sie den neuen Bahnen tolerant-neugierig, gespannt, wo es wohl hinführen mag.
Ja okay, aber ist das schlecht? Nein, überhaupt nicht. Es ist eine interessante Erfahrung und ich finde, man sollte sie als Autor unbedingt gemacht haben. Doch sehen wir, wie es der Figur geht, sie hocherhobenen Haupts den Weg geht, den sie sich offenbar in den Kopf gesetzt hat. Sie hüpft und wandert, lernt Neues kennen, begegnet anderen Figuren und alles ist prächtig. Mittlerweile sind wir auf Seite 100 und die Figur strampelt munter vor sich hin.
Vielleicht auf Seite 130 beobachet der Autor etwas Seltsames. Kann das sein? Eigentlich unmöglich, oder? Die Figur schleppt sich merklich schaumgebremster voran und bei Seite 140 setzt sie sich zum ersten Mal auf einen Kilometerstein und bläst die Wangen auf. Was hat sie denn? Ist sie krank? Und dann, auf Seite 150 das Entsetzen: Der Figur ist langweilig! Madonna, echt, langweilig! Steigt in dir die Ahnung einer Parallele auf? War das nicht bei Klarabella von den Neumeier-Krauthubers auch mit den Spielsachen so? Ständig was Neues, das aber in immer kürzeren Abständen in einer Ecke landete?
Beiden Protagonisten, der freigelassenen Romanfigur und dem überhäuften Kind fehlt etwas. Eine Grenze. Man könnte auch sagen ein Konflikt oder eine Anstrengung. Wenn die fehlen, dann läuft etwas ins Leere. Wenn wir einen Blick auf die Natur werfen, dann wird schnell klar, dass dieser Mangel an Herausforderung das gleiche ist, als ob der Natur ihre Rhythmen abhanden kämen, die alles in Bewegung halten. Primär der Rhythmus zwischen Spannung und Entspannung. Sobald dieses Auf-und-Ab fehlt – sein berühmtester Vertreter und unser nächster Freund ist unser Herzschlag – ist die abflachende Linie eingeleitet, die mit dem Tod endet. Dieser Rhythmus ist uns allen eingeboren, ist die Grundlage für jedes Leben. Für jedes junge Leben, also Kind, gleichermaßen wie für jede Geschichte.
Wenn Kinder tun können, was sie gerade wollen, wird ihnen langweilig und/oder sie werden unrund. Und das völlig zurecht, denn sie werden um lebenswichtige Impulse betrogen. Da auch Geschichten ein Teil unserer Welt sind und ihre Figuren ebenfalls, unterliegen sie derselben Notwendigkeit des Pendelns zwischen Polen, des Sichbeweisens durch Überwindung von Hindernissen.
Wenn wir neu mit dem Schreiben beginnen, stammt die treibende Kraft gern aus dem Bedürfnis uns ›auszudrücken‹ – also etwas aus uns heraus loszuwerden – oder einen mehr oder weniger geheimen Traum real werden zu sehen. Und die ganze Palette der Vermischung von beidem. Da steht oft das Bedürfnis nach heiler Welt im Vordergrund, vielleicht als Traum oder als Kontrast zu unserem realen Leben. Wir werden also den Teufel tun, der Figur Knüppel in die Wege zu werfen. Nein, sie soll das genießen, was uns vielleicht im Innersten verwehrt ist: Friede (oder Liebe), Freude, Eierkuchen.
Hat das Geschriebene therapeutischen Wert oder schreiben wir es nur für uns selbst, ist das auch völlig in Orndung. Doch oft geht es Autoren darum, gelesen zu werden. Es kommt also noch wer ins Spiel: der Leser. Leser hingegen wollen unterhalten werden. Und Unterhaltung ist nie eine nebelige Landschaft ohne Kontraste oder ein endloser Spaziergang über einen von leckenden Wellen und wispernden Palmen gesäumter Sandstrand bis auf Seite 500 in den Sonnenuntergang hinein. Selbst ein ganz normales Leben ist ohne Herausforderungen so öd, dass es schon manchen wegen Sinnlosigkeit in den Selbstmord getrieben hat. Auf den Punkt gebracht, für unser eigenes Leben, das unserer Kinder und unsere Geschichten:
Ohne Herausforderung kein Erfolg.
Der Erfolg, das Gefühl, es geschafft zu haben, treibt uns von unseren ersten Stunden an. Der Brust Milch abgerungen zu haben, von anderen in der Schule wertgeschätzt zu werden, Prüfungen geschafft, ein rotes Auto gekauft, eine Partnerin erobert zu haben – alles kleine und große Erfolge. Gefühle, die wir aber nur durch Überwindung von irgendetwas dem Leben abgetrotzt haben. Was uns in den Schoß fällt, ist für kurze Zeit wunderbar entspannend. Aber letztlich will man sich doch alles erarbeiten, erkämpfen, erringen – wie auch immer.
Und so schließt sich der Kreis: Kinder sind nicht anders als wir und Geschichten erzählen von niemand anderem als von uns. Also werden wir/sie alle nur dann glücklich, wenn wir/sie dem ewigen Gesetz der Natur von Spannung und Entspannung folgen. Berauben wir jemanden der Herausforderung, tun wir ihm das Schlimmste an, was einem widerfahren kann: wir berauben ihn der Erfolgsmöglichkeit.
Bei Kindern liegt das alles auf der Hand, aber wie ist es bei Geschichten? Wir sind das für unsere Geschichten, was – sagen wir mal der Einfachheit halber dazu – der liebe Gott für uns ist: Die Autorität, die liebevoll Aufgaben verteilt, um unsere Schützlinge daran wachsen zu lassen. Wie langweilig ist eine Figur, die einfach tun kann, was sie will (wie gesagt, wenn wir uns Leser wünschen)? Eine Figur, die alles kann und alles weiß und alles hat. Wie öde, wie öde, wie furchtbar öde. Und: Macht es nicht Spaß, sich einen Hindernis-Parcours für unsere geliebten Protagonisten zu überlegen und ihnen dabei zuzusehen, wie sie an sich selbst oder äußeren Herausforderungen wachsen?
Zum Abschluss, um was es konkret geht:
- Bei Figuren
Es ist hilfreich, sich eine konkrete Grenze für die Fähigkeiten und den Charakter unserer Figuren zu überlegen. Wo sind ihre Stärken und wo ihre Schwächen ist wichtig, aber wie können wir das auch glaubhaft zusammenstellen? Das ist ganz einfach. Es gibt verschiedene sogenannte Persönlichkeitsprofile, die in Persönlichkeitstests Anwendung finden. Dabei werden Menschen in grobe charakterlich-energetische Gruppen unterteilt (z.B. ›Analysten‹, ›Diplomaten‹, ›Wachen‹ und ›Forscher‹. Oder extrovertiert-gesellige, emotional-verletzliche, erfinderisch-neugierige, effektiv-organisierte oder kooperativ-freundlich-mitfühlende Typen. In Patchwork haben wir im Figurenblatt als erstes das DISG-Persönlichkeitsprofil eingebaut, um der Figur gleich zu Beginn des Basis-Drall zu verpassen. Es gibt aber eine ganze Menge weiterer Profiltypen, man braucht nur im Internet danach zu suchen. Das Eneagramm ist ebenso interessant, genau aber auch die Astrologie, wem das liegt. Wichtig dabei ist, dass man sich klar darüber wird, wie die Figur in ihrem Herzen tickt und dass keine authentische Figur eine eierlegende Wollmilchsau ist. Und dass sie das durch die ganze Geschichte immer gleich tut und damit authentisch wirkt. - Für die Geschichte
Das gleiche gilt auch für die Geschichte selbst. Das beginnt beim Genre, das die wenigsten Leser gerne gemischt haben. Natürlich können auch andere Elemente dabei sein, aber nicht in gleicher Gewichtung.
Noch detaillierter ist der sogenannte Masteplot. Es gibt dazu das schöne Buch ›20 Masterplots‹ von Ronald B. Tobias. Es ist sehr sinnvoll, sich einen bestimmtem Masterplot auszusuchen. Allein schon Namen wie ›Die Flucht‹, ›Die Verwandlung‹ oder ›Das Opfer‹ zeigen uns, dass es sich offenbar um sehr unterschiedliche Storys handeln wird. Auch hier sollten wir uns dazu entscheiden, was es werden soll, um die Erwartungen des Lesers zuerst per Cover und Klappentext zu erwecken und dann mit der Geschichte dazu passend zu erfüllen.
Also lasst euren Figuren und Geschichten um Himmels Willen keinen freien Lauf. Spielt lieber Gott für sie und bastelt ihnen eine spannende Reise, derer allerspannendste Momente ihr euren Lesern in Form eurer Geschichte präsentiert. Wer als Autor erkennt, dass Hindernisse und sie zu meistern kein auferlegtes Leid bedeuten sondern Chancen, zu gewinnen, der hat nicht nur für sein eigenes Leben, sondern auch für seine Geschichten eine werttvolle Essenz entdeckt.
Ich möchte selbst noch einen Kommentar anfügen, um einem eventuellen Missverständnis vorzubeugen.
Es kann eventuell durch die Empfehlung von ›notwendigen Grenzen‹ oder ›Herausforderungen‹, die mit Anstrengungen verbunden sind, der Eindruck entstehen, ich wäre ein Mitglied der Man-muss-sein-Glück-im-Schweiße-seines-Angesichts-erarbeiten-Fraktion. Ganz im Gegenteil! Ich halte absolut nichts von Disziplin und Drill, auch nicht sich selbst gegenüber. Es gibt vielmehr einen sehr lebendigen Ersatz dafür, der viel mehr bewirkt, und zwar Freude und Begeisterung. Und anstatt mit Härte (Disziplin) etwas zu erreichen, sollte man die Energie besser dahinein investieren, wie man zu Freude und Begeisterung gelangt. Das sind dann nämlich gleich ein paar Fliegen auf einen Schlag.
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Das kann ich nur hundertprozentig unterschreiben. ;) Ich war schon in verschiedenen Schreibforen, und immer wieder stolpert man darüber, dass Leute zwar schreiben wollen, sich aber nicht die geringsten Gedanken darüber machen. Was man selbst geschrieben hat, gefällt einem selbst meistens ja auch, und dann kommt jemand und sagt, das ist langweilig oder da solltest du handwerklich vielleicht noch anders drangehen. Selbst wenn man das vorsichtig formuliert, bekommt man da oft eine Menge verletzte Eitelkeit um die Ohren gehauen, wenn man so etwas sagt. :)
Ist ja auch zu verstehen. Ich lasse mir auch nicht gern sagen, etwas ist langweilig, wenn ich es selbst geschrieben habe. Das kann einem schon die Tränen in die Augen treiben. Aber wenn man dann mal über die verletzte Eitelkeit hinweg ist, sollte einem doch klarwerden, dass solche Kommentare nur hilfreich sein können, dass man daran wachsen kann, dass man dadurch erst lernt, was man falsch macht oder vielleicht einfach noch nicht so gut macht und was man besser machen könnte. Ist aber eher selten der Fall.
Ich selbst plane eine Geschichte ungern. Ich bin eben eine Bauchschreiberin, und die Geschichte entwickelt sich beim Schreiben. Dennoch würde ich auch spätestens bei Seite 100 hängenbleiben, wenn ich nicht ein paar Regeln beachten würde, damit die Geschichte einen Spannungsbogen hat, sich weiterentwickelt und die Figuren daran wachsen.
Auf die Figuren wird meines Erachtens viel zu wenig wert gelegt. Gerade in den so populären Fantasygeschichten sind Figuren anscheinend das Unwichtigste. Da gibt es dann Bücher mit 1000 Seiten, und dauernd springt alles hin und her, passiert etwas, aber von den Figuren hängt das meistens nicht ab, sondern immer nur von äußerlichen Ereignissen, bei denen die betroffenen Figuren im Grunde genommen beliebig sind.
Aber ich komme schon wieder ins Schwadronieren. :) Danke für diesen Artikel, wollte ich eigentlich nur sagen.
Dagmar, du schreibst: »Ich bin eben eine Bauchschreiberin, und die Geschichte entwickelt sich beim Schreiben« dann aber »Dennoch würde ich auch spätestens bei Seite 100 hängenbleiben, wenn ich nicht ein paar Regeln beachten würde«.
Magst du mit uns teilen, welche Regeln du verwendest?
Viele sagen ja, plotten würde sie in ihrer Kreativität einschränken. Vielleicht braucht man nur ein klein wenig umzudenken, und die Kreativität in die Entwicklung beim Plotten zu stecken? Und das Schreiben selbst dann als Feintunings-Kreativität zu sehen?
Was mir immer wieder sehr nützlich ist, ist das, was auch in Patchwork enthalten ist, z.B. in der Schneeflockenmethode, also die Abwechslung zwischen Dilemma und Entscheidung am Ende einer Szene oder eines Kapitels. Oder wenn ein Kapitel sehr ruhig war, sehr nachdenklich, vielleicht viel innerer Monolog, dann muss das nächste Kapitel aufregender werden, eventuell Action, aber auf jeden Fall Dialog. Das ist nicht in Stein gemeißelt, aber das hat mir schon oft geholfen, wenn ich nicht so recht wusste, wie die Geschichte weitergehen soll. Das muss ich ja vor jedem Kapitel überlegen, je nachdem, was im vorigen Kapitel beim Schreiben entwickelt hat, da ich nicht plotte.