Noch einmal Perspektive: ICH

Zwar hatte gerade der vorige Artikel die Perspektiven zum Gegenstand, aber die Ich-Perspektive ist noch einmal eine andere Klasse.

Es wird viel über Perspektivfehler gesprochen, aber interessanterweise relativ wenig über die Ich-Perspektive. Zwar ähneln Ich- und personale Perspektive einander, denn bei beiden erzählt man sozusagen aus dem Inneren der Protagonisten heraus. Aber das wars auch schon mit der Ähnlichkeit.

Auf den folgenden Zeilen möchte ich auf Risiken und Nebenwirkungen der Ich-Perspektive eingehen.

Er/sie sagt, tut, denkt, das ist schon ein ganzes Stück weit weg – von einem selbst. Wenn hingegen ›ich‹ etwas sagt … puh, das ist einfach nahe, denn ›ich‹ bin schließlich ich, oder?

Nein. Und damit sind wir schon bei zwei Problemen der ich-Perspektive, die es bei der personalen nicht gibt. Aber sehen wir uns gleich auch weitere an.

  1. Die Ich-Perspektive bedeutet Nähe. Cool sagen die einen, ich mag Nähe. Igitt die anderen, bleib mir nur vom Leib. Also was nun?
    Über diesen Punkt sollten wir uns als erstes klar werden, wenn es um die Entscheidung ›Ich-Perspektive ja oder nein‹ geht: Will ich überhaupt Nähe? Der schreibratgebermotivierte Autor wird sagen: »Ja klar! Nähe zum Protagonisten zieht den Leser viel besser in die Geschichte, weil er sich so besser identifizieren kann!« Doch Schreibrat und Autoren- beziehungsweise Leserpsyche sind zwei Paar Schuhe. Natürlich ist das mit der Nähe so. Aber es mögen nicht alle Menschen Nähe. Speziell wenn man traumatische Erlebnisse hinter sich hat, kann einen Nähe sogar ängstigen. Allerdings sollte einen die Rücksicht auf den eventuell diesbezüglich zart besaiteten Leser nicht daran hindern, sie trotzdem zu versuchen. Denn man kann es nie allen recht machen.
  2. Zweitens gibt es zu bedenken, dass man bei der Ich-Perspektive als ›Ich‹ schreibt (superschlaue Bemerkung, was denn sonst). Ja ja, da hast du schon recht, aber hast du auch mal über die Konsequenzen nachgedacht? Du musste bei der Ich-Perspektive fähig dazu sein, dich einerseits in die Figur hineinzudenken, zugleich aber du selbst zu bleiben. Und ja, das geht auch dann, wenn man nicht schizophren ist. Doch es bedeutet Hingabe. Sie verlangt den vollen Einsatz von dir. Und das in mehrfacher Hinsicht. Zum einen eben, dass du wirklich deine Figur sein musst im Fühlen, Denken und Handeln. In deiner Figur hast du selbst allerdings nichts verloren. Kannst du euch nicht auseinanderhalten, wird deine Protagonistin zu einem Klon von dir. Das willst du vermutlich nicht. Außer du schreibst einen Abenteuer- oder Liebesroman und willst fühlen, wie es deinem siegreichen Helden geht – ein bisschen Kompensation wird wohl noch sein dürfen. Dann ist das sogar hilfreich. Allerdings bedenke dabei, dass du viel von dir preisgibst. Okay, das tust du immer, aber in der Regel nicht so deutlich und direkt.
  3. Weiters bist du insofern gefordert, als die Ich-Perspektive unbarmherzig Perspektivfehler aufdeckt. Vielleicht verstecken sich auch aus diesem Grund viele Autoren gern hinter der personalen. Denn bei der fällt es nicht so augescheinlich auf, wenn man mal ein paar Gedanken einer anderen Figur heineinschummelt – meistens mit der Vorgabe, dass der Leser unbedingt wissen muss, dass … (nein, muss er nicht). Also sind die Herausforderungen Nummer zwei ex equo Selbstdiziplin und Konsequenz.
  4. Dann habe ich schon das Argument gehört, die Ich-Perspektive eigne sich nur für bestimmte Genres oder Storys. Das halte ich für eine Ausrede. Wenn du der Ansicht bist, erkläre mir gerne, wann und warum du das so sein soll. Die Ich-Perspektive ist einfach näher an der handelnden Figur – Punkt.
  5. Als Mann in einer Frauenrolle (oder umgekehrt) …? Zugegeben, das ist nicht ganz einfach. Denn Männer ticken nun einmal anders als Frauen. Auch wenn man uns derzeit klar machen möchte, dass auch die Geschlechter einer Genderglobalisierung unterzogen werden sollten. Aber gab es nicht einmal den Spruch no risk no fun? Wo risk und wieso fun? Ich habe mir den Spaß mal gemacht in meinem Roman Airport Madrid, weshalb ich dazu auch was sagen kann. Risk ist bei der Ich-Perspektive immer, dass es unangenehm sein kann, sich mit bestimmten Themen – oder generell etwas Selbst-Fremden – zu sehr zu identifizieren (siehe Punkt 1). Wenn die die Nähe Probleme bereitet, kannst du wie in allen derartigen Situationen im Leben reagieren: Du kannst kneifen (man muss sich doch nicht gewaltsam wehtun) oder du siehst es als Herausforderung. Dann kann es nicht nur ein tolles Schreiberlebnis sein, sondern dich sogar persönlichkeitsentwickelnd untersützen! Also: Wenn du es dir zutraust, es innerlich zu schaffen, dann lass dich darauf ein.
    Hier noch eine kleine Anekdote zu meinem Rollentausch: Ich verwendete bei dem Roman eine längere Szene, die ich wo anders nicht mehr gebrauchen konnte und deshalb auf Halde gelegt hatte. Nun passte sie wunderbar. Allerdings war das Original für einen Mann geschrieben. Kein Problem, dachte ich mir, musst halt bloß ein paarmal ›er‹ durch ›sie‹ ersetzen. O-o … das war eindeutig zu kurz gedacht. So konnte meine Protagonistin schlecht vom Dekolleté der Flugbegleiterin begeistert sein, dafür war aber das Aufbblitzen eines fraulichen Einverständnisses möglich, als der Mann vor ihr in der Schlange der Aussteigenden eine anzügliche Bemerkung machte und die Uniformierte mit den Augen rollte, kaum dass der vorbei war. Wunderbares Erlebnis, das Umschreiben!
  6. Auch habe ich gehört, man könne die Ich-Perspektive nur dann verwenden, wenn es nur einen Protagonisten in der Geschichte gäbe. Warum das denn? Es gibt doch Erzählstränge. So kann das eine Kapitel Xaver als Ich-Erzähler dominieren, ein anderes Juliette in der personalen und im dritten Kapitel Jens-Ulrich ebenfalls in der Ich-Perspektive. Ist doch spannender, wenn die beiden Männer aus ihrer Sicht über die begehrenswerte Französin erzählen, oder? Allerdings bitte nicht in einem Absatz die Perspektive wechseln. Kapitel-Perspektivtreue ist zwar kein Muss, aber man sollte doch zumindest beim Perspektivwechsel auch einen Szenenwechsel vornehmen. Schließlich willst du ja deinen Lesern zeigen, dass du sie liebst und nicht hasst.

Du siehst, die Ich-Perspektive ist eine Herausforderung. Bist du der gewachsen …? Aber hey, du willst schließlich besser werden, oder?

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