Braucht eine Geschichte Konflikte?

Deine Geschichte muss einen Konflikt enthalten, sonst ist sie langweilig. Nicht nur Schreibratgeber proklamieren das, sondern viele plaudern es nach. Alles schön und gut. Aber stimmt das auch?

Neulich fand zu diesem Thema in einer Facebook-Gruppe eine Diskussion statt. Bis auf wenige Ausnahmen lautete der Tenor: Konflikte sind nicht nur wichtig, sondern alles ist ein Konflikt. Ohne Konflikte ist eine Geschichte langweilig. Aha.

Zwar sind auch meiner Meinung nach Konflikte hilfreich, um eine Geschichte voranzutreiben. Nicht ohne Grund baut ja das klassische Konstrukt – der Dreiakter und all seine Verwandten bis hin zur Schneeflockenmethode – darauf auf: Die Protagonistin wird in ihrer alten Welt erlebt, in der sie mehr oder weniger mit ihrem Leben dahindümpelt. Dann geschieht etwas, das sie aufrüttelt, der berühmte Ruf. Sie steht auf, steckt neugierig die Nase in diesen frischen, ungewohnten Wind, schnuppert Appetitliches und schon ist es geschehen. Ein Point of no Return ist flugs erreicht und sie kann, auf Biegen und Brechen, nur noch nach vorne.

Und während sie in ihr neues Leben stolpert und getreten wird, sucht sie ständig ihre innere Gespaltenheit heim, ob diese Entscheidung auch eine gute gewesen war.

Freilich, auf den ersten Blick scheint dieser Motor ein guter zu sein – ist er ja auch – aber er ist eben nicht der einzige. Ich habe mir überlegt, warum die Notwendigkeit eines Konflikts in den Diskussionen derart verteidigt wurde – bis hin zu ausgewachsenen Unhöflichkeiten. Liegt es daran, dass Konflikte so ziemlich das zentrale Thema unserer aktuellen Gesellschaft sind? Sollte dann nicht eher der genau gegenteilige Wunsch vorherrschen, also ›um Himmels willen, bloß keine Konflikte‹? Das Gleiche denke ich mir mit Kriminalromanen. Sollten die Menschen nicht endlich die Nase voll haben von Konflikt, Streit, Krieg, Mord? Nein, Krimis laufen nach wie vor bestens. Aber ich muss nicht alles verstehen. Deshalb bleibe ich mal beim Konflikt.

Ich fand die Diskussionen insofern anregend, als ich selbst gezwungen war, mich mit dem Thema wieder einmal zu beschäftigen. Zuerst fragte ich mich, was ein Konflikt überhaupt ist. Duden meint dazu: »[Ein Konflikt ist eine] durch das Aufeinanderprallen widerstreitender Auffassungen, Interessen o. Ä. entstandene schwierige Situation, die zum Zerwürfnis führen kann.«

Bei Wikipedia kann man lesen: »Bei einem Konflikt (von lateinisch confligere, „zusammentreffen, kämpfen“; PPP: conflictum) treffen unterschiedliche Einstellungen, Erwartungen, Interessen, Meinungen, Wertvorstellungen oder Ziele von Organisationen, Personen, gesellschaftlichen Gruppen oder Staaten aufeinander.«

Bei der Internetseite spektrum.de findet man diesen Artikelanfang: »Mit ›Konflikt‹ werden innere psychische Zustände (sog. intrapsychischer Konflikt), Verhaltens- und Zieldiskrepanzen zwischen zwei oder mehr Personen und Auseinandersetzungen auf einer kollektiven Ebene bezeichnet. Ein Konflikt zwischen zwei oder mehr Personen … ist gegeben, wenn die Betroffenen unterschiedliche Interessen, Meinungen, Einstellungen, Werte, Handlungspläne oder Ziele haben, diese nicht gleichzeitig in einem für alle optimalen oder befriedigenden Maße realisiert werden können und sich die Konfliktparteien dieser Diskrepanzen bewusst sind. Entscheidend ist das subjektive Erleben, d. h. die Einschätzung durch die Beteiligten.«

Konflikte sind also innere oder äußere unterschiedliche Sichten zu einem Thema. Im Außen werden sie unter den Figuren ausgetragen, im inneren mit den eigenen Anteilen, bei denen nicht selten der Schweinehund gerne teilnimmt.

Ein Konflikt löst sich meistens in einer Entscheidung auf. Aber nicht vor jeder Entscheidung steht auch ein Konflikt. Geht jemand in üblicher Manier aus, zum Stammtisch vielleicht, überlegt, ob er lieber ein T-Shirt oder ein Hemd zu den Jeans wählt, geht der Entscheidung kaum ein Konflikt voraus. Geht man hingegen zu einem ersten Date, kann es durchaus kompliziert werden. Ich denke, es liegt daran, wie wichtig jemandem sein Standpunkt beziehungsweise das Ergebnis ist, dass er um des Beharrens willen einen Konflikt mit anderen riskiert. Während T-Shirt oder Hemd sicher keinen Konflikt bedeuten – außer beide sind ungewaschen – hat die Entscheidung in der anderen Situation einen ganz anderen Stellenwert. Ein echter Konflikt wird es also erst dann, wenn es um etwas geht. Und wenn es einigermaßen wehtut, egal, wie man sich entscheidet, spricht man von einem Dilemma. Für einen Roman natürlich noch besser. Konflikte sind also generell eine feine Sache, um eine Geschichte spannender zu machen, aber nicht der einzige Weg und, meiner bescheidenen Ansicht nach, nicht einmal der Königsweg.

Schon vor dieser Diskussion interessierte es mich mehr, was alles eine Geschichte spannend machen kann, als welchen Konflikt ich denn einbauen möchte.

Das übergeordnete Rezept ist meiner Meinung nach etwas ganz anderes, allerdings wird das so seltsamerweise nie bezeichnet.

Es geht um Enttäuschung.

Enttäuschung bedeutet, dass man von der vorher herrschenden Täuschung befreit worden ist. Zu Unrecht ist sie negativ konnotiert. Im Gegenteil ist sie oft im wahrsten Sinn des Wortes zum Lachen, denn jeder gute Witz ist ein Spiel mit dem Enttäuschen einer Erwartung. Dazu eignet sich alles, was nicht unseren üblichen Erwartungen und Werten entspricht. Das können eine unbekannte Situation, eine unerwartete Reaktion oder überhaupt am besten gleich ein unkalkulierbarer Protagonist sein. Ich persönlich finde fremde Bräuche und Länder spannend, überhaupt alles, wobei ich Neues erfahren darf.

Genau betrachtet ist auch das, was wir unter Konflikt verstehen, in Wirklichkeit eine Enttäuschung: Die Protagonistin nimmt sich etwas vor, hält es aber nicht ein oder durch und wir sind gespannt, ob sie es das nächste Mal schafft oder nicht.

Auch sogenannte Twists, also unerwartete Wendungen sind Enttäuschungen. Wir erwarten, dass die Geschichte nach links abbiegt, aber nein, sie geht rückwärts, geradeaus, nach rechts. Oder gleich nach oben.

Als Quintessenz aus der Auseinandersetzung mit dem Wundermittel ›Konflikt‹ nehme ich für mich mit: Ja, schon, aber ich möchte in Zukunft versuchen, meine Leser möglichst häufig zu enttäuschen.

Auch euch wünsche ich viel Erfolg damit.

Solltest du noch weitere Spannungssteigerer wissen, freue ich mich, wenn du sie als Bemerkungen an den Artikel anhängst.

 

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Benutzer, die diesen Beitrag geliked haben

  • frahde

Ein paar Kommentare zu “Braucht eine Geschichte Konflikte?

  1. frahdefrahde

    Danke für den Beitrag.

    Neben dem Überraschenden, das der Ent-Täuschung entspringt, und dem Konflikt, an dessem Ende es nicht selten um Gewinn (Siege) und Verlust (Niederlagen) geht, finde ich allgemein das Unbekannte (Unerwartete), das Neugier entfacht, als Spannungssteigerer. Wir lesen gern auch Bücher über Dinge, die wir (noch) nicht kennen, nicht abschätzen können, wir suchen das Neue, um zu lernen und besser zu verstehen. Das Unbekannte kann bedrohlich sein oder Rettung bedeuten, daher kann die Überführung des Un-Bekannten in das Be-Greif-Bare in meinen Augen die Leser interessieren und ihnen gut tun. Konflikte, Überraschungen und Unerklärliches schreien alle irgendwie nach Auflösung, Karthasis, Erkenntnisgewinn.

  2. Rainer Brunner

    Hallo zusammen.

    Nun meine auf o. a. Frage.
    Eine Geschichte braucht keinen Konflikt. Robert Walser, Peter Bichsel, auch Kafka können auch Lesbares ohne Konflikte schreiben.
    Das gilt besonders für Kurzprosa. Bei Romanen sind Konflikte angebracht- deren Lösung durch den Held nicht zwingend.

    Grüße von Rainer

    1. martinmartin Autor des Beitrags

      Hallo Rainer,

      ich denke, unter ›Konflikt‹ fällt viel mehr, als nur Konflikt. Allein schon Ungewohntes kann eine innere Spannung auslösen, ungeachtet der Qualität der Emotion. Alles ohne Spannung empfinden wir als langweilig. Allerdings empfindet jeder diese Spannung in anderen Gegebenheiten. Während die einen von Kafka, Walser und Lenz begeistert sind, kann ich zum Beispiel dieser Art von Literatur wenig abgewinnen. Während die einen sich an langen, verschachtelten Sätzen erfreuen können – »wie behält er den Überblick«? – mag ich es lieber übersichtlich und direkt.
      Ich finde, das ist ja das Schöne: dass wir so verschieden sind. Auf jeden Fall ist (An)Spannung neben der Ruhe das zweite Lebenselixier.

      Viele Grüße
      Martin

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