Einwurzeln

Dieses Thema enthält 1 Antwort und 1 Teilnehmer. Es wurde zuletzt aktualisiert von  schneehexe vor 6 Jahre, 8 Monate.

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    martin
    martin
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    • Käpt'n

    Vor wenigen Jahren nahm ich mir ein Taxi sehr frühmorgens vom Flughafen in die Innenstadt Bangkoks zu meinem Hotel. Erstes Mal Bangkok. Das Hotel hatte seine Rezeption in einer kleinen Passage, die wiederum von einer Gasse abzweigte, in der sich gerade ein Auto und ein Moped vorüberfahrend begegnen konnten. Die lückenlos aneinandergebauten Häuser waren meist zwei Stockwerke hoch.

    Nachdem ich ausgiebig geduscht hatte – es war immer noch nicht einmal acht Uhr – ging ich hinunter. In der Passage fand ich außer der Rezeption eine Geldwechslerin und ein Reisebüro. Vorne, einen Meter von der Gasse abgesetzt, stand quer eine Bank, wie man sie auch bei uns kennt.

    Auf die setzte ich mich.

    Drei Stunden lang.

    Gut, ich war müde, zu viele Gin Tonic auf dem Flug von Kalkutta nach Bangkok und erst eine Stunde vor der Landung eingeschlafen. Das hatte mich am Gepäckband und danach eine gute halbe Stunde Orientierungsarbeit gekostet, bis ich in der Lage war, mit den Taxifahrern zu feilschen.

    Also, ich saß drei Stunden – kein Nickerchen! In dieser Zeit erlebte ich etwas Abenteuerliches: den Prozess des Einwurzelns.

    Bald hatte ich heraußen, wer in der Passage arbeitete und wer nebenan beim Schneider und wer vis a vis bei dem Restaurant, das so großzügig Currygerichtduft zu mir herüberwehte. Nachdm der Verkäufer der Schneiderei erkannt hatte, dass ich für ihn ein hoffnungsloser Fall war, plauderten wir immer wieder. Im Lauf der halben Stunden teilte ich Leute ein in ›direkt hier‹, ›in der Nähe‹, ›Laufmenschheit‹. Ich bekam sogar Angewohnheiten von einigen mit. Zum Beispiel wie der Schneiderverkäufer seine potentiellen Kunden anbaggerte, wie die Geldwechslerin nach jedem Kundenbesuch bedrückt in sich zusammensank und wie die Reisebürofräuleins tratschten, wenn es nichts anderes zu tun gab. Das war meistens.

    Es dauerte lächerliche drei Stunden und ich war dort zu Hause. Mehr, als zuvor an fast allen Orten auf der Welt. Wie lang ich wohl zum Erreichen dieser Vertrautheit gebraucht hätte, wenn ich den Hoteleingang in der Art frequentiert hätte, wie man das üblicherweise tut? Wochen? Monate? Gar nie?

    Bei den Schwimmenden Märkten probierte ich es tags darauf eine halbe Stunde lang aus mit ähnlichem Erfolg. Abgesehen davon, dass ich die Thailänderin mit ihrem Boot, auf dem gepinselt stand: ›I love you Tom Orrow‹ noch heute so in meinem Gedächtnis habe wie damals, gewann ich dadurch Einblicke in das Treiben dieses exotischen Marktes, deren Stände Langboote sind. In einer halben Stunde.

    So, und nun die Auflösung. Warum schreibe ich HIER davon?

    Dieses Einwurzeln schenkt uns Vertrautheit, Geborgenheit, einverstanden? Wir fühlen uns wohl und ganz unpersönliche Gegenden – weil wir sie ja nicht kennen – werden auf magische Weise kuschelig vertraut. Einfach durch etwas Zeit und Zuwendng.

    Genau das sollten wir unseren Lesern auch schenken. Wohlfühlen, gemütlichen Genuss und das auch dann, wenn es um Vampire oder Serienmörder geht. Sattelfest in der Geschichte zu sitzen und sich sagen können: Hier bin ich zu Hause, hier kenne ich mich aus, hier will ich nicht mehr weg.

    Dieser Artikel soll keine Schreibratgeberlektion sein, sondern ein Gedankenanstoß; deshalb ist er auch gleich zu Ende.
    Vorher aber noch: Wie können wir den Leser um seine Geborgenheit bringen?

    Zum Beispiel durch zu frühe Rückblenden, durch am Anfang zu schnelle Szenenwechsel, durch mangelhafte Einführung von Figuren und Settings. Das waren ein paar Möglichkeiten.

    Das Problem liegt zu einem großen Teil darin, dass wir als Autoen ja alles bereits kennen, die Leserin aber nicht. Nehmen wir uns doch die Mühe, sie an der Hand zu nehmen und sie in unsere Geschichte zu entführen. Werden wir zum Märchenerzähler, der ihr all das Wundervolle und Neue rundherum in schillernden Farben und weit ausladenden Gesten präsentiert. Natürlich nicht als Infodump, sondern spannend. Ehrensache :-)

    Hier der kommunikative Part dazu auf Facebook in der Gruppe Autoren-Knowhow.

    #20873

    schneehexe
    Teilnehmer
    • Beiträge: 15
    • schaut mal rein

    Durch Reaktionen eines Charakters.

    Die Figur, in die man sich hinein begeben hat oder an die man sich gewöhnt hat, handelt “plötzlich” ungewohnt.
    Dabei ist die abweichende Handlungsweise der Figur oft aus Sicht des Lesers nicht ausreichend begründet oder eingeleitet worden.

    Die Handlungsweise einer Figur ist entweder durch äußere und/oder innere Erlebnisse bedingt.

    Äußere Erlebnisse können sich ankündigen, müssen sie aber nicht. Die Intensität des Verhaltens einer Figur muss zur Intensität des äußeren Geschehens passen. Je intensiver ein äußeres Ereignis, umso intensiver kann die Reaktion ausfallen. Dabei ist die Reaktion in der Geschichte dem inneren Erleben der Figur proportional.
    Je intensiver das Ereignis, umso intensiver kann die Reaktion ausfallen.
    Fällt das innere Erleben einer Figur intensiver/flacher aus als durch das äußere Ereignis und die Figur sonst zu erwarten wäre, so ist das in der Figur anzulegen und dann auch deutlich zu machen. Man kann natürlich auch das äußere Geschehen anpassen, wenn man die Figur belassen möchte, wie sie ist.

    Solche Unebenheiten entstehen dort, wo es aus der Einführung hinein in die Geschichte geht und wo es aus der Geschichte raus zum Ende geht. Innerhalb der Geschichte ist es am Häufigsten zu finden, denn dort muss die Figur jedes mal neu entscheiden, wie sie mit ihrer Situation umgeht. Das ist auch bei der Wahl der Perspektive zu berücksichtigen. Manche Perspektiven lassen bestimmte Sichtweisen nicht zu und damit entgeht mit der Sichtweise verbundene, besondere Information auch dem Leser. Einige Reaktionen sind aber ohne die Information nicht nach zu vollziehen. Die Figur handelt “unverständlich”.

    Liebe Grüße Schneehexe

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