Ashley
Er kann seinen Blick nicht von ihrem Fuß abwenden, den ein schlichter Pumps verhüllt. Das rote Ende ihres übergeschlagenen Beines wippt unregelmäßig. Von dem leichten Schlingern des Waggons kann es nicht rühren, nicht im Takt. Eine Angewohnheit? Nervosität? Gar seinetwegen? Oder wegen des Buchs, in dem sie gerade liest?
Er versucht sich vorzustellen, wie sich der elegante Schwung der Fessel unter dem weichen Leder fortsetzen mag; er beugt sich etwas vor und versucht sich an einem Röntgenblick. Der misslingt. Er lehnt sich wieder zurück und beobachtet, wie sie, an ihrer Umgebung desinteressiert, in ihrem Buch liest. Ein Teil ihres Gesichts und die mehr als schulterlangen Haare spiegeln sich im Fenster. Er sieht, wie ihre braunen Augen den Wörtern nachhüpfen und dabei immer tiefer wandern. Ein warmes Gefühl von Vertrautheit breitet sich in seiner Brust aus. Und das Bedürfnis, sie zu berühren.
»Sie würden mir eine große Freude bereiten«, machen sich seine Lippen selbstständig, »wenn ich Ihren Fuß massieren dürfte.«
Sie lässt ihr Buch eine Handbreit sinken und blickt ihn an. Ihr Körper schlingert sanft im Rhythmus des Tschuschuk-Tschuschuk, mit dem der Zug jedes neue Schienenstück in Angriff nimmt.
»Meinen Fuß massieren?« Eine Augenbraue ist in die Höhe gewandert und ihre Lippen kräuseln sich. Wunderschöne Lippen, denkt er. Wie sie sich anfühlen mögen? Mit der freien Hand greift sie zu der orangefarbenen Kette im großzügigen Ausschnitt ihres schwarzen Wickelkleides und beginnt, mit den kleinen Kugeln zu spielen. »Sind Sie Masseur und unglücklich, wenn Sie nicht arbeiten können?« Ihre Worte hören sich für ihn an wie das verhaltene Kullern runder Steine über das Fell einer Trommel. Er spürt, wie sie durch die Ohren in seinen Bauch fallen.
»Nein; ich möchte lediglich gerne erfahren, wie sich Ihr Fuß anfühlt. Nicht das Bein, nur der Fuß. Genau der rechte, der so verspielt vor mir hüpft, wenn es möglich ist.«
Sie blickt ihn unverwandt an. »Gut«, sagt sie nach einer Weile.
Er setzt sich auf ihre Seite, einen Sitz zwischen ihnen freilassend. Wortlos dreht sie sich nach links und streckt ihm das rechte Bein entgegen. Behutsam streift er den roten Schuh ab und stellt ihn vor ihr auf den Boden. Sanft nimmt er ihren Fuß in beide Hände und beginnt mit der Massage. Seine Finger gleiten über ihren Rist, ihre Zehen, ihren Mittelfuß.
Sie lässt ihr Buch in ihren Schoß sinken, darin einen Finger als Lesezeichen. Mit der anderen Hand fasst sie eine Strähne ihrer kastanienbraunen Locken und wickelt sie um den Zeigefinger. Ihr Blick wandert unscharf hinauf zum Gepäcksnetz.
»Wie heißen Sie?«, fragt sie das Netz.
»Maria.«
Die Haarsträhne entgleitet ihren Fingern und fällt zurück auf ihr Schlüsselbein. »Maria?«
»Ja, Maria. Meine Eltern werden wohl vergessen haben, dass davor ein sinnvoller Rainer oder Klaus oder Erich gehört. Nun …«, ergänzt er nach kurzem Zögern, »eigentlich steht zuerst ein ›Hektor‹. Doch da ist mir Maria noch lieber. Und Sie?«
»Ashley«, antwortet sie.
»Ein schöner Name.« Er legt den Kopf schief. »Kein österreichischer.«
»Meine Mutter stammt aus Großbritannien.«
»Ah …« Während des Gesprächs hat er die Zuwendung zu ihrem Fuß nicht unterbrochen. Er knetet zart ihre Muskeln, streift sanft, doch bestimmt über die dünne, seidenartige Hülle über ihrer Haut.
»Wie eine Lymphdrainage.« Ihr Lächeln lässt kurz zwei gleichmäßige Zahnreihen erkennen.
»Es ist aber keine. Es fühlt sich für mich fast an wie eine Droge. Ich genieße die Kommunikation mit Ihrem Fuß.«
»Was teilt er Ihnen mit?«
»Warten Sie … er sagt mir, dass er froh ist, ihrem Körper räumliche Unabhängigkeit geben zu dürfen. Und er freut sich, das Bindeglied zwischen Ihnen und Mutter Erde zu sein.«
Als ob sie beim Tagträumen ertappt worden wäre, strafft sie sich, die Falten auf ihrer Stirn tauchen wieder auf, doch die Mundwinkel bleiben, wo sie sind. Sie zieht ihren Fuß zurück und lässt ihn in den Schuh am Boden gleiten.
»Sie denken jetzt, dass bei mir ein paar Schrauben locker sind?« Er lächelt sie an. Er sagt auch das so beiläufig, als ob es ebenfalls das Normalste der Welt wäre, mit lockeren Schrauben durchs Leben zu gehen.
»Nun ja …«, murmelt sie.
»Das ist doch verständlich, nicht wahr? Sie kennen mich nicht, haben mich noch nie gesehen, und dann bitte ich Sie gleich um etwas so Intimes wie ihren Fuß massieren zu dürfen.«
Sie zieht die Brauen zusammen und betrachtet ihn. Dann fällt ihr auf, dass sie ihn vielleicht wie eine Museumsbesucherin betrachtet, die das Exponat einer neu entdeckten Vogelgattung in Augenschein nimmt, und sie entspannt ihre Züge. Andererseits: und wenn schon!
Optisch würde man ihm nicht anmerken, dass er zu so seltsamen Ideen fähig ist. Jeans, ein blaues T-Shirt, eine altmodische Wildlederjacke. Dunkelbraune, dichte, mittellang geschnittene, verwuschelte Haare, volle, aber bestimmte Lippen, kantiges Gesicht. Unrasiert oder Dreitagebart? Völlig normal, ja sogar ein wenig konservativ. Aber sieht man nicht gerade den wirklich gefährlichen Typen ihre Neigungen eben nicht an? Ein Psychopath? Ein Fußfetischist? Vielleicht etwas Schlimmeres? Was soll denn der Quatsch! Hat sie so etwas schon jemals gestört? Er hat was! Mal etwas anderes. Keiner von diesen geschniegelten Möchtegern-Casanovas oder den gespielt lockeren Freizeitklamottenträgern. Ob er sie als Experiment betrachtet? Das könnte man auch umdrehen!
»Warum tun Sie das? Um Leute zu verunsichern?«
»Oh nein, auf keinen Fall!«, wehrt er ab.
Er scheint ehrlich entrüstet zu sein. Sie spürt ein Ziehen in der Magengegend, kann es nicht einstufen. Und zugleich findet sie die Situation prickelnd. Entweder hat er es faustdick hinter den Ohren oder er spielt ihr tatsächlich nichts vor.
»Ich tue nur das, wovon ich spüre, dass es gerade passt«, sagt er.
Sie sieht ihn stirnrunzelnd an. Schüttelt kaum merklich den Kopf.
»Und Sie haben wahrgenommen, dass Sie meinen Fuß massieren sollen.«
»Ja.« Er blickt freundlich-gelassen, sie forschend.
»Ich mache das, was mir im Augenblick Freude verschafft.«
»Und was bereitet Ihnen gerade Freude?« Seine Mundwinkel zucken und sie wehrt sofort ab: »Nein, sagen Sie jetzt nicht ›Füße massieren‹!«
»Können Sie Gedanken lesen?«
Nun heben sich doch ihre Mundwinkel, in ihren Augenwinkeln springen fächerförmig ein paar Fältchen auf und ein Blitzen hüpft aus ihren Augen. »Sie sind ein echt durchgeknalltes Exemplar Mann!«
»Finden Sie? Ich finde Sie äußerst sympathisch! Unkonventionell. Natürlich und intelligent und – sehr anmutig.«
»Danke.« Für sie ist es nichts Neues, als attraktiv bezeichnet zu werden. Und doch irritiert sie wiederum etwas Ungewöhnliches: Als anmutig hat sie noch nie jemand beschrieben. Sie spürt eine unerklärliche Traurigkeit in sich aufsteigen. Sie spürt, wie ihr Lächeln langsam verlischt.
Ohne Voranmeldung donnert ein Gegenzug vorbei und füllt das Abteil mit hektisch-rhythmischem Lärm. Beide blicken in die Blitze, die die Fenster des anderen Zuges hereinwerfen. Im tanzenden Spiegel des Fensters erkennt er, dass sie ihre Augen leicht zusammengekniffen hat. Ihr Blick entdeckt seinen, zittert und wendet sich ab.
Mit einem letzten scharfen Zischen gibt der andere Zug die Sicht auf die noch winterbraune Märzlandschaft wieder frei.
Während sie weiter hinausschauen, spürt er den Gefühlen in sich nach, diesen zarten Fäden, die von ihm zu ihr hinüberziehen. Er glaubt, Resonanz wahrzunehmen. Ist er zu weit gegangen? Hat er sie verstört? Das mit Mutter Erde war keine gute Idee, auch wenn er es genauso fühlte. Aber sie kennt ihn schließlich nicht. Weiß nicht, wie er denkt. Vielleicht tut sie solche Gedanken als Spinnerei ab. Es muss so sein, so, wie sie reagiert hat.
Ihre Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. »Ich meinte eigentlich, womit Sie ihren Lebensunterhalt verdienen.«
Er braucht einen Augenblick, um wieder zurückzukehren. »Das ist unterschiedlich.« Sie ist außergewöhnlich! Nein, sagt er zu sich, es war nicht zu viel. Grenzwertig vielleicht. Aber nicht zu viel. Er spürt, wie er ruhig wird, in den Fluss kommt. »Meistens tue ich tatsächlich, was mir im Moment Freude macht. Das ist mir wichtig! Was habe ich denn davon, wenn ich mich acht, neun Stunden zu einem Job überwinde, nach dem Feierabend lechze, um mir so das Geld zu erschuften, das ich dann in meiner Freizeit mit dem durchbringe, was mir Freude macht? Ist doch widersinnig, finden Sie nicht?«
»Schön, wenn Sie das können.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust, ihre Lippen sind schmal geworden. »Für kaum jemanden ist das machbar.«
Ah! Er lächelt in sich hinein. Sie sieht so bezaubernd aus, wenn sie sich ärgert!
»Ich vermute, die wenigsten wollen das.«
Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Wie meinen Sie das?«
»Ich glaube, dass kaum jemand Gedanken daran verschwendet, was er in Wirklichkeit will. Die meisten denken vielmehr darüber nach, wie sich möglichst viel verdienen lässt, um in der Folge damit das machen zu können, was sie gerne tun. Abgesehen von denen, die nicht einmal das wissen. Ich finde, es geht einfacher.«
»Und zwar …?« Ihre Brauen nähern sich und sie beugt sich vor.
»Tun.«
Sie atmet hörbar aus und lehnt sich wieder an die lederne Rückenlehne. »Dann halt noch genauer: Womit verdienten Sie ihr letztes Geld? Zum Beispiel das, mit dem Sie die Fahrkarte bezahlt haben?« Sie wirkt wie jemand, der schon mehrmals eine sehr simple und offensichtliche Sache vergeblich zu erklären versucht hat.
»Ich habe eine App für ein Handy geschrieben.« Er lächelt und ihre Augen werden größer.
»Eine App? Für ein Handy? Und davon kann man leben?« Sie sieht ihn an, als wollte sie antworten: Ja, ja, und ich habe meine erste Million mit Sackhüpfen gemacht.
»Ja. Wenn man das Passende trifft.«
Sie schüttelt kaum merklich den Kopf, schaut auf ihre Armbanduhr und dann nach draußen.
»Wohin fahren Sie«, fragt er. Sie steigt schon aus? Schon zu Ende?
»Amstetten«, sagt sie, »ich besuche dort eine Tante. Und Sie?«
»Keine Ahnung. Ich bin unterwegs nach Westen.«
Sie sieht mit den Augen zur Decke und verzieht die Lippen. »Unverkennbar, wir kommen schließlich aus Wien. Wohin im Westen?« Die letzten drei Worte klingen wie die einer Mutter, die ihren Dreijährigen fragt, ob er nun endlich aufessen will.
»Ich weiß es noch nicht.«
Sie blickt wieder aus dem Fenster, draußen gleiten die Hallen des Doka-Geländes vorbei. Maria fragt sich, ob sie entnervt, enttäuscht oder gelangweilt ist. Der Zug drosselt das Tempo. Sie steht auf; bleibt zögernd stehen; bückt sich zu ihrer Handtasche. »Es war interessant, Sie kennenzulernen. Vielleicht … treffen wir uns einmal wieder?«
»Ja.« Er blickt zu ihr auf. Dann erhebt er sich. Ihr Gesicht ist keine Armeslänge von ihm entfernt. Ein Duft nach Apfelblüten weht zu ihm herauf und ihre Augen scheinen ihm dunkler als zuvor. Er macht einen Schritt auf sie zu und fühlt ihre Wärme. Leicht berührt er ihre Oberarme, beugt sich vor und haucht ihr je einen Kuss auf beide Wangen. Sie erstarrt. »Ja, ich habe es auch genossen! Es war sehr … im Gleichklang!«, sagt er. Ein Kloß macht es sich in seinem Hals gemütlich.
Sie gleicht lediglich das leichte Rucken des Bremsvorganges aus, ihre Augen sind vielleicht noch etwas dunkler. Sie verharrt einen weiteren Augenblick, öffnet schließlich die Schiebetüre einen Spalt.
»Also dann …« Zögernd blickt sie ihn an.
»Ich freue mich, wenn wir uns wiedersehen sollten!«, sagt er. Sie erwacht aus ihrer Erstarrung, schiebt die Kabinentür völlig auf und tritt auf den Gang hinaus.
Das Palmblatt
Maria sieht aus dem Fenster, als der Zug wieder anfährt. Was hat mich veranlasst, mich von Ashley auf eine Weise zu verabschieden, als ob wir uns bald wieder träfen? Das kann doch in einer Millionenstadt gar nicht geschehen! Zumal ich nur ihren Vornamen kenne …
In dem Augenblick, sinniert er weiter, als sie sich anschickte zu gehen, wäre ihm die Frage nach einer Telefonnummer oder Mailadresse sogar absurd vorgekommen. Als ob diese Option gar nicht zur Verfügung gestanden wäre. Nein, das traf es nicht. Es war das Gefühl der Vertrautheit, das ihn diese Frage nicht stellen ließ. Eine Verbundenheit, die er nur als das Ergebnis jahrelanger Gemeinsamkeit kennt. Wenn man eben mal aus dem Haus geht, um Brötchen zu kaufen, fragt man ja auch nicht nach der Telefonnummer seiner Freundin, die inzwischen den Kaffee aufsetzt.
Die Stimmigkeit dieses Vergleichs lässt ihn den Kopf schütteln. Er wedelt mit der Linken fächerartig vor seiner Stirn. »Was hab ich nur für einen Vogel …«, brummt er dabei.
»So ein Quatsch«, murmelt er gleich darauf halblaut, als ob er sich selbst davon überzeugen wollte, alles wäre in Ordnung und nur seine Wahrnehmung ein bisschen aus der Spur. Dann seufzt er. Bei allen mag das funktionieren, bei mir nicht. Da habe ich mich bereits viel zu weit aus dem Fenster gelehnt, was Beobachten, Fühlen und Zeichenlesen betrifft. Ab einem bestimmten Zeitpunkt gibt es kein Zurück mehr. Mit diesen Gedanken findet er sich wieder am Beginn des Im-Kreis-Denkens, wobei er gleichzeitig dieses Unbehagen in sich aufsteigen fühlt. Ein Unbehagen aus Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein, von dem er weiß, dass es wieder in dem Gefühl von Versagen münden wird. Er spürt, wie in seinem Hals ein Kloß Form annimmt.
Soweit darf es nicht kommen! Maria steht mit einem Ruck auf, die Lippen schmaler als sonst, die Züge emotionslos. Sein Ziel ist der Speisewagen.
Lediglich direkt beim Eingang sitzt ein Mann mittleren Alters, mit Anzug und offenem Hemd bei einer Tasse Kaffee und tippt, den Kopf zu seinem Notebook gesenkt. Maria wählt einen entfernten Tisch. Der junge Kellner, den Maria auf etwa achtzehn schätzt, lehnt in sich zusammengesunken an der Edelstahltheke, was so gar nicht zu seinem weißen Hemd, der schwarzen Hose und Weste und dunkelroten Krawatte passt, und sieht blicklos herüber. Als Maria Platz genommen hat, atmet der junge Mann hörbar aus, wächst in seine Normalstatur, stößt sich ab und schlendert herüber. Dabei blickt er aus dem Fenster.
»Guten Tag, was darf’s sein?«
Als am Satzende der Frage seine Stimme fast in ein Stöhnen absackt, anstatt sich zu heben, fühlt Maria eine Mischung aus Mitgefühl und Widerwillen.
»Bring mir doch bitte einen Kaffee.« Rechtzeitig wird er sich mit einem Schaudern bewusst, dass es hier um ÖBB-Kaffee geht. »Oder hast du einen Espresso?«
Die Art, wie der junge Mann zurückschlurft, lässt Maria hoffen, dass er nicht unterwegs vor Langeweile zusammenbricht. Trotzdem findet er den Ober sympathisch.
»Machst du deinen Job gerne?«, fragt er ihn, als er mit dem Espresso zurückkehrt und ihn vor ihm abstellt.
»Mit irgendwas muss man ja sein Geld verdienen.« Sein Körper versteift sich und sein Blick wird finster.
»Ich will damit nichts Bestimmtes sagen, nur: Macht dir diese Arbeit Spaß? Machst du sie gern?«
»Na ja …«, sagt der junge Mann gedehnt, atmet aus und lässt die Schultern sinken. Er hängt einen Daumen in die Hosentasche und knickt noch ein Stück mehr in sich zusammen.
»Warum widmest du dich dann nicht etwas anderem?«
Der Kellner zuckt mit den Schultern. »Ist doch egal, Hauptsache Kohle machen.«
»Wäre es nicht angenehmer, wenn es auch Spaß machen würde?«
»Angenehmer?« Der junge Mann schnaubt verächtlich. »Seit wann ist Geldverdienen angenehm? Es gibt keine Jobs, die Spaß machen!«
Maria betrachtet den jungen Mann vor sich, er kommt ihm deplatziert vor in seinem förmlichen Gewand.
»Was würdest du gerne tun? Einfach mal so ins Blaue geträumt, ganz ohne einen Gedanken ans Geldverdienen oder was geht und was nicht.« Ein wärmendes Gefühl durchströmt Maria und einen Augenblick lang kommt es ihm so vor, als hätte er seinen eigenen Sohn vor sich stehen.
»Pfh …« Bei aufgeblasenen Backen bläst der andere Luft durch die Lippen, tritt von einem Bein aufs andere. »Keine Ahnung … weiß ich echt nicht.«
»Befindet sich jemand im Zug, der dich beaufsichtigt?«, fragt Maria.
Die Augen des Kellners verengen sich ein wenig und er nimmt den Kopf zurück. »Äh … nein. Warum?«
»Hast du noch viel Unerledigtes?«
»Nein …!« Er zieht die Brauen zusammen.
»Okay, ich lade dich ein. Was magst du?«
Des anderen Züge glätten sich und die Brauen gehen nach oben. »Cola light?«
»Okay, dann bis gleich.«
»Eigentlich darf ich das nicht …« Der junge Mann zögert.
»Ich weiß. Aber wenn keiner zur Kontrolle da ist und du mit der Arbeit nicht hinten bist?«
Der Ober wackelt mit dem Kopf hin und her, gibt sich einen Ruck, holt sich sein Getränk und setzt sich auf die Ecke der Bank Maria gegenüber.
»Also, wofür brennt dein Herz?«
Der Kellner schaut so lange leer in die Tischplatte, dass Maria schon annimmt, er hätte die Frage nicht gehört. Doch plötzlich blickt er auf, als ob er eben aufgewacht wäre und lächelt.
»Reisen … reisen und darüber schreiben. Das würde mir gefallen!«
»Ah ja«, sagt Maria und betrachtet sein Gegenüber. Der sitzt aufrecht und leicht nach vorne gelehnt da und Maria glaubt, den Ansatz eines Leuchtens in seinem Gesicht zu sehen. »Was hindert dich, es zu tun?«
Der Körper des anderen verliert an Spannung und sein Gesicht scheint um ein paar Grade dunkler zu werden. »Dafür brauch ich doch zuerst Geld. Das ist nicht so einfach.«
»Ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen«, beginnt Maria und beobachtete das Mienenspiel seines Gegenübers. »Als ich zweiundzwanzig war, habe ich das Studium geschmissen, hat mir nicht mehr gefallen.«
»Okay …«, lautet die gedehnte Antwort. »Ich kann mir aber ein Studium gar nicht leisten!«
»Um das geht’s ja gar nicht«, sagt Maria und winkt etwas ungeduldig ab, »es geht nur um eine Geschichte, meine Geschichte; als Beispiel. Okay?«
Andeutungsweises Nicken.
»Ich komme zwar aus sogenannten behüteten Verhältnissen – Vater Uni-Prof und Mutter Übersetzerin – aber das sagt nicht viel. Das Geld hat mir nicht weitergeholfen. Du siehst, das Studium hatte ich abgebrochen, weil es mir keinen Spaß gemacht hat.«
»Da haben Sie eine ganz andere Position gehabt«, unterbricht der junge Kellner. »Sie konnten entscheiden, was Sie wollten. Das kann ich nicht. Ich muss nehmen, was ich bekomme.«
»Du brauchst mich nicht zu siezen. Ich heiße Maria.« Auf die erstaunte Reaktion des andern geht er nicht ein, hat keine Lust, wieder seine Maria-Geschichte vom Stapel zu lassen.
»Klaus.« Sie reichen sich die Hand.
»Genau das will ich dir mit meiner Geschichte zeigen: Geld macht es nicht einfacher, seinen Weg zu finden. Also: Anschließend fand ich einige recht brauchbare Stellen, Bürokram und Verkauf. Keine hat mich vom Hocker gerissen, obwohl es mit der Bezahlung stimmte. Ich kam mir trotzdem leer und unausgefüllt vor. Das ist es alles nicht, dachte ich mir, aber was dann? Ich ließ die Jobs bleiben und reiste ein halbes Jahr quer durch Asien. Das Geld ging mir bald aus, denn ich hatte nur eine kurze Reise geplant gehabt, um den Kopf klar zu bekommen. Doch etwas in mir sagte, dass ich noch nicht zurückkehren konnte. Ich hatte noch keine Antwort gefunden. Also jobbte ich da und dort. Irgendwas findet man immer. Wenn du unterwegs bist, triffst du in einer Tour neue Leute. Einer davon war ein Ami, aber frag mich nicht, von wo genau. Der erzählte mir etwas von sogenannten Palmblatt-Bibliotheken, von denen die meisten in Indien sind. Schon was gehört davon?«
»Palm-was? Nö.«
»Zuerst kam mir das auch kryptisch vor, als mir Josh – also der Ami – davon erzählte. Er sagte, dass vor rund siebentausend Jahren sogenannte Rishis den Lebensweg von mehreren Millionen Menschen auf Stechpalmenblätter schrieben, die dann in eigenen Büchereien verwahrt worden wären. Es solle in Indien zwölf solcher Palmblatt-Bibliotheken geben. Man könne diese besuchen und bekäme Informationen zu seinem Leben.«
Der Kellner blickt Maria mit gerunzelten Augenbrauen an, der Zweifel steht in dicken Lettern quer über sein Gesicht geschrieben.
Maria grinst. »So hab ich damals auch dreingeschaut und mir gedacht, was in drei Teufels Namen soll das denn? Da soll wer vor einigen Tausend Jahren was über mich aufgeschrieben haben? Aber vielleicht bekomme ich ja genau von dort meine Antwort.
Okay, ich machte mich auf die Suche nach einer solchen Bibliothek und fand auch eine. Man kann aber nicht einfach hingehen, wie in ein Restaurant, und einmal Palmblattlesen bestellen. Zuerst brauchst du einen Termin und gibst bei der Vereinbarung dein Geburtsdatum an. Dann bekommst du Bescheid. Hast du was über Indien gelesen oder gehört? Fotos gesehen?«
Klaus schüttelt den Kopf.
»Indien ist für unsereinen schwer zu verstehen. Du findest zum Beispiel Hightech in fünfzig Stockwerken neben Wellblechhütten und eine Tempelanlage in Gold und Weiß, alles an einem Flusslauf nebeneinander aufgefädelt. An einem Fluss, in dem Fischer- und Marktboote gerudert werden. Und das alles praktisch Wand an Wand. Indien ist heiß und es gibt viel Staub. Zwischen Fußgängern und quer über die Straßen staksen magere Kühe. Dunkle Männer in zerschlissenen Arbeiterklamotten, dann wieder Frauen mit farbenprächtigen Saris. Motorradrikschas, die stockwerkhoch überladen sind, und Busse, an denen Menschen in Trauben hängen. Am Straßenrand ein Stand auf Rädern, wo du was zu essen bekommst, daneben eine Kuh und Staub. Reich, arm, grau, bunt – ein für uns wahnwitziger Mix. Draußen auf dem Land ist es eher nur staubig, weniger bunt, weil einfach nicht so viele Leute dort sind.
Nach einer Weile fand ich schließlich die Bibliothek. Ein sauberes Häuschen mit ein paar Holzstangen als Zaun davor, auf einer Seite ein Baum, der wie eine Akazie aussah, und auf der anderen eine räudige Palme. Drinnen zwei Inder, der eine der Nadi-Reader, der andere der Übersetzer. Den Nadi-Reader hätte ich mir auch gut als Beamten vorstellen können in seinem weißen Hemd und den hellen Hosen. Der weiße Punkt mit rotem Zentrum mitten auf der Stirn war in Indien keine Außergewöhnlichkeit. Da sah der Übersetzer schon mehr zur Situation passend aus. Zu seiner ebenfalls dunkelbraunen Hautfarbe war sein weißer Bürstenschnitt ein Kontrast, aber das Auffallendste eine gelbe Masse, die er auf seine Stirn gestrichen hatte, auf der ein paar Verzierungen in Rot prangten.
Ich kam mir vor wie bei einem Verhör, beobachtet, beurteilt. Der Nadi-Reader griff in eine Schublade seines Schreibtischs und holte einen Stapel Holzblättchen heraus, so dünn wie Furnier. So sehen die berühmten Palmblätter also aus, dachte ich mir. Der Stapel war von einem roten Wollfaden umwickelt, den er wedelnd entfernte. Anscheinend hatte er mit einem Griff das richtige Blatt erwischt. Er verglich noch ein paar Daten, schrieb was auf, rechnete ein wenig und begann dann auf Tamilisch von dem Blatt zu singen.«
»Singen?«, fragt Klaus, kratzt sich am Kopf und kneift Mund und Augen zusammen.
»Ja, singen. Hört sich ein bisschen an wie der Pfarrer in der Kirche. Aber melodischer.« Maria muss bei dem Vergleich grinsen. Hörte sich in Wirklichkeit völlig anders an. »Aber ich fand, dass der Singsang gut passte zu den Sanskrit-Schnörkeln auf den Stechpalmenblättern. Der Übersetzer erzählte mir in einem Englisch, das eigentlich auch noch einen Übersetzer gebraucht hätte, was der Reader sagte. Ganz zu Beginn des Readings checkte er einige Daten aus meinem Leben: Mein Vater war gestorben, als ich zehn war. Ich hatte einen Mopedunfall mit siebzehn. Ich hatte mein Studium geschmissen, ja und ich hatte anschließend kürzere Jobs. Es stimmte tatsächlich alles. Das beeindruckte mich dann doch.
Schließlich kam der Inder in Fahrt, las und guckte und las und schwieg. Irgendwann blickte er doch auf und empfahl mir, ich möge stets den Weg meines Herzens gehen. Ach ja, und ich solle auf die Zeichen achten. Wenn ich das tun würde, dann stünden mir hohes Alter und Glück bevor. Ich schaute ihn erwartungsvoll an, wie es nun weiterginge. Aber da kam nichts mehr. Das war’s gewesen. Ja, das war doch tatsächlich alles!
Dafür das ganze Prozedere mit Anmelden und dem restlichen Kram?, dachte ich mir. Ich war einigermaßen sauer, denn diese Antwort passt ja zweifellos zu jedem und allen, nicht wahr? Ich vergaß diesen Besuch schnell wieder und kam drei Monate später nach Hause. Kaum war ich daheim, pilgerte ich in das Café, in dem wir früher immer zusammengekommen waren. Wir, das waren Freunde, manche davon Kommilitonen. Ob ich wohl jemanden antreffen würde?, fragte ich mich. Was sollte ich sagen? Obwohl ein halbes Jahr vergangen war, traf ich alles nahezu unverändert an. Das große Hallo, als ich eintrat, tat mir unglaublich gut. Und dann – ja dann begann eine seltsame Geschichte …«
Klaus hat interessiert zugehört. Als ob er nur darauf gewartet hätte, dass Maria eine Pause macht, wirft er ein: »Ich kann mir so eine Reise gar nicht leisten.«
Maria spürt, wie Ärger in ihm aufsteigt. »›Ich kann nicht‹ scheint so ein Standardspruch von dir zu sein.« Er klingt leicht gereizt. »Wer hat dir denn den eingeimpft? Warum kannst du nicht?«
»Weil man halt für alles Geld braucht.«
»Du mit deinem ewigen Geld …«, murmelt Maria und atmet tief aus. Es kribbelt in seinem Bauch und er hätte gern mehr gesagt. Zum Beispiel Klaus gefragt, warum er denn ständig Gegenargumente sucht. »Okay, du brauchst doch für sowas kein Millionär zu sein! Glaub mir, wenn du das gefunden hast, worauf du wirklich scharf bist, wirst du automatisch Wege finden, auf denen das notwendige Geld zu dir kommt! Immer, wenn du bemerkst, dass du sagst ›Ich kann das nicht‹ oder ›Das geht nicht‹, dann solltest du hellhörig werden und es gleich umdrehen in ›Ich kann‹ und ›Es geht‹. Du verbaust dir so jede Möglichkeit, dass etwas klappen kann, wenn du von vorneherein sagst, dass es nicht möglich ist! Glaub mir, ich hab das auch lernen müssen … Magst du die Geschichte fertig hören?«
Der Kellner Klaus schaut in die Runde, es sind keine neuen Gäste aufgetaucht. »Ja, klar!«
»Also«, beginnt Maria …
Drogen und Drugstore
Kaum war die Türe des Café Sperl hinter Maria zugefallen, hörte er einen kleinen Aufschrei. Er blickte in die Richtung und konnte gerade noch einen Fuß nach hinten bringen, um seine Standposition zu verbessern. Dann hockte auch schon ein zartes Wesen mit einem blonden Wuschelkopf in seinen Armen. Lächelnd drückte er Mia zurück. Wie schön es war, eine beste Freundin zu haben! Hinten im Café sah er ein paar Arme in der Luft rudern, Mia zog ihn an der Hand dorthin und dann sah er es: Die ganze Truppe saß dort, war sicher in altgewohnter Betriebsamkeit in Diskussionen vertieft gewesen, die sie nun für Marias Begrüßung unterbrochen hatten. Es war, als wäre er nicht ein halbes Jahr weg gewesen, sondern als ob sie sich erst gestern verabschiedet hätten. Verdammt, tat das gut!
Maria mochte das Café Sperl, denn man konnte im Sommer draußen sitzen, und drinnen ließ sich Billard spielen. Die namhaftesten Zeitungen standen zur Verfügung und es zeichnete sich durch ein eigenes Flair aus mit dem marmorgedeckten Tresen, den hohen Räumen mit Stuckdecken und den kaffeetrinkenden, pensionierten Hofräten. Seit einigen Jahren trafen sie sich hier, auf irgendjemanden der Clique stieß man immer. Diesmal waren sogar ausgesprochen viele von ihnen hier, als hätten sie vorausgesehen gehabt, dass Maria eintreffen würde. Eilends kam man überein, dass das Sperl zwar zum Treffpunkt einwandfrei taugte, der Willkommensfete jedoch ein würdigerer Rahmen angemessen wäre. Sir Henrys Eltern befanden sich auf Reisen und so ging die Entscheidung mehrheitlich für deren geräumige Villa aus.
Während das besprochen wurde, lehnte Mias Kopf an Marias Schulter. Ihre naturweißblonden Haare fielen wie Rinnsale über sein dunkles Hemd, während sie gedankenverloren mit dem obersten Knopf seiner bunten Jacke spielte. Maria hörte, wie sie ihren Atem in kurzen, schnellen Schüben ausstieß, bog den Kopf zur Seite und blickte sie an.
»Warum kicherst du?«
»Ach«, erwiderte sie, »ich habe gerade über unser Verhältnis nachgedacht …«
»Haben wir denn eines?«, unterbrach er, was ihm einen Knuff in die Seite einbrachte.
»Nein, im Ernst!«
Er rückte etwas ab, um sie besser ansehen zu können.
»Manchmal«, setzte sie fort, »kommt es mir vor, als wären wir Clownfisch und Prachtanemone.«
»… wobei ich die Prachtanemone bin«, unterbrach Maria abermals und drückte die Brust ein wenig heraus.
Blitzschnell drehte sich Mia zu ihm und trommelte ihm mit ihren kleinen Fäusten auf die Brust. »Du nimmst mich nicht ernst, du miese Ratte!«, fauchte sie ihn an.
Erschrocken zuckte er zurück, bemerkte ein leises Zucken um Mias Mundwinkel und wusste, dass er ihr wieder einmal auf den Leim gegangen war.
»Okay«, wiegelte er ab, »also du Prachtanemone und ich Clownfisch.«
Sie legte den Zeigefinger an die Nasenspitze, gab ihrem Gesicht mit ansatzweisem Stirnrunzeln einen nachdenklichen Anstrich und meinte: »Nein, du Blüte, ich Biene.«
Wohlweislich verkniff sich Maria ein »Sag ich ja« und wartete auf die Gebrauchsanweisung zu dieser Metapher.
»Du bist immer so ruhig und gemessen, wirkst so abgeklärt … und«
»Weise?«, half er ihr aus, nicht ohne seine Mundwinkel mit einem Hauch von Spott in die Höhe zu bewegen.
»Na ja …«, sagte sie gedehnt, »übertreiben wollte ich nun auch wieder nicht. Aber, ja, es kommt vielleicht sogar hin. Ach, ich weiß nicht, wie du das machst, ich wäre manchmal auch gern ein wenig so.« Damit verzog sie ihre vollen Lippen zu einem niedlichen Schmollmund.
»Meine liebe Mia«, und dabei verließ alles sein Gesicht, was reinem Ernst im Weg gestanden wäre, »es ist wunderbar, dass du haarscharf genau so bist, wie du bist! Du bist so ein liebes, quirliges Wesen, Sonnenstrahlen wirken blass gegen dich! Du steckst jeden mit deinem Lachen an – das für mich wie ein Lied ist, gespielt von einer kleinen Glocke und einem Gebirgsquell – und bringst selbst in dunkelste Herzen allein mit deiner Anwesenheit Funken von Hoffnung, dass alles gut wird!«
»Mönsch«, dabei ließ sie ihre Stimme in eine Tiefe fallen, die man bei ihr für unmöglich gehalten hätte, und klappte bei dem Ö ihre Lippen zu einem kreisrunden Karpfenmaul aus, »das ist aber ganz schön kitschig, was du da daherlaberst!« Einen Wimpernschlag später jedoch schnellte sie wie eine Viper vor und pappte Maria einen Kuss auf die Wange. Dabei murmelte sie leise: »Du bist lieb …«, und seufzte tief.
Maria glaubte zu wissen, was sie jetzt dachte. Sie hatten immer wieder darüber geredet: Ihre gegenseitige Art der Zuneigung war nicht gleich. Er sah in ihr die liebenswerteste Freundin, die man sich vorstellen kann. Sie hatte ihm gestanden, dass sie eine Symbiose aus ihren zwei unterschiedlichen Wesen als Erfüllung eines Zusammenseins sah. Und dass sie es einfach nicht verstand, warum es bei ihm nicht funken würde. Bei den Gedanken an diese Gespräche stimmte Maria nun in ihr Seufzen ein und wusste, dass sie wusste, was er gerade dachte. Die letzte Minute vor dem gemeinsamen Aufbruch aller zur Luxusvilla von Henrys Eltern saßen sie still nebeneinander.
Als sie aufstanden, brach Maria das Schweigen: »Wie geht es eigentlich mit Jack?«
»Trallala«, trällerte sie, wobei sie schnell die Daumen ihrer verschränkten Hand umeinander kreisen ließ und Lippen und Augen zusammenkniff, »ich bin seit drei Wochen Single!«
Maria atmete hörbar ein, ließ den Atem stocken, drehte sich kurz zu ihr, atmete aus und ärgerte sich schon darüber, Erleichterung gezeigt zu haben. Trotzdem war ihm ein gemurmeltes »Na, das war aber wirklich Zeit« ausgekommen.
»Ja«, meinte Mia, »irgendwie hattest du schon Recht. Er war ein Arsch.«
Leicht untertrieben, dachte Maria und war ein wenig stolz auf sich, dass er es nur gedacht hatte. Er wünschte sich für Mia das Beste, und Jack war ein Armleuchter.
Den Rest des Nachmittags bei Henry bis spät in die Nacht hinein – es war Freitag – standen Marias Erzählungen von seinem Fernosturlaub immer wieder im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Zugleich gaben sie Anstoß zu manchen Diskussionen, von denen sich einige verselbstständigten. Einem dieser Irrläufer aus seiner Reiseerzählung wohnte er selbst bei. Es war mittlerweile drei Uhr morgens.
Es ging gerade um Drogen und das war freilich im Zusammenhang mit Fernost ein äußerst ertragreiches Thema. Speziell, wenn Maria von diversen Mondlichtpartys auf verschiedenen thailändischen Inseln erzählte. Diese waren sehr laut, viele der Besucher mit Drogen aller Art vollgepumpt und es konnte mitunter durchaus auch gefährlich werden. Trotzdem dachte er schon wieder mit leichtem Fernweh an die Wärme der Nächte in der asiatischen Ferne, das laue Meer und das köstliche Essen.
Und dann kam es irgendwann zu dem Zwischenfall mit Freud. Der hieß in Wirklichkeit Hannes Großschädel und stammte aus Graz. Maria kannte ihn gut und wusste deshalb, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er sich nicht mehr zurückhalten konnte und die letzten Klemmen von seiner philosophisch-psychologischen Ader sprangen. Vor allem bei einem Thema, das so spannungsgeladen zwischen Genuss und Prävention lag.
Und tatsächlich: Es dauerte keine halbe Stunde, bis Freud versuchte, dem Gespräch eine andere Wendung aufzuzwingen. Standhaft wollte er in aller Ernsthaftigkeit seine Linie durchsetzen, suchte Opfer, um sie von deren Wichtigkeit zu überzeugen, doch er fand keine. Nicht an diesem Abend. Er tat Maria fast leid, wie er vom Desinteresse aller einfach in einen Winkel gespült wurde. Irgendwann hatte er aufgegeben und war dort für den Rest des Festes schmollend und isoliert sitzengeblieben. Nur eine ständig wachsende Anzahl geleerter Bierflaschen scharte sich als stilles Publikum um ihn.
Der Kern der Runde des Abends, der schon lange ein Morgen war, löste sich zur Dämmerstunde auf und Maria fiel, zu Hause angekommen, in dumpfen Schlaf. Als er am frühen Nachmittag aus einem Traum aufschreckte, erinnerte er sich gerade noch an den letzten Fetzen desselben. Der Nadi aus Indien, der Palmblattleser, war riesengroß vor ihm gestanden und hatte auf die Schrift vor sich gedeutet. Und da fiel Maria wieder ein, dass es darum ging, die Zeichen zu sehen und auch das Herz mit einzubeziehen.
Er setzte sich schwer atmend in seinem Bett auf, rieb sich die Augen und riss sie abwechselnd auf und kniff sie zu, um den schrecklichen Traum loszuwerden. Nur langsam ließ sich die bedrohliche Mischung aus Angst, etwas Grundlegendes versäumt zu haben, und schlechtem Gewissen aus seinen Knochen vertreiben. Außerdem hatte er nur sechs Stunden geschlafen und deshalb den dringenden Wunsch nach Klarheit in jeder Beziehung. Er beglückwünschte sich, wenig Alkohol getrunken zu haben, denn aus diesem Grund fand er bei dem folgenden halbautomatischen Selbstcheck weder Kopfschmerz noch eine pelzige Zunge vor. Nach einer Weile war sein Atem wieder ruhig und gleichmäßig, er saß er auf dem Bettrand, blickte auf seine Füße und schüttelte den Kopf.
Sein Magen hingegen lenkte seine Aufmerksamkeit mit leisem, aber unbarmherzigem Grollen auf sich. Mit verquollenen Augen schlurfte er zu seiner Kochecke und öffnete den Kühlschrank. Dankbar atmete er aus, da er sich vor dem Kaffeehausbesuch am Vortag zum Einkauf von ein paar Grundlebensmitteln überwunden hatte, griff nach vier Eiern und angelte sich eine Zwiebel unter der Spüle hervor.
Mit einem harten Knacken sprang ein Funken aus dem Anzünder in die leise zischenden, unsichtbaren Gasfahnen und verwandelte sie mit einem dumpfen Fauchen in einen Flammenkranz. Sofort begann die Butterscheibe in der Pfanne darüber zu leben und machte sich daran, die Zwiebelstückchen zuerst glasig, dann braun werden zu lassen. Maria schüttete die mittlerweile gequirlte Suppe aus Ei, Milch und Gewürzen über die braunen, sich windenden Würmer und brachte sie mit einer Gabel in die ihm zusagende Konsistenz. Parallel bestrich er ein paar Scheiben Weißbrot dick mit Butter und gab beim Kaffeeautomaten die Basis für einen Cappuccino in Auftrag. Mit fließenden Bewegungen fischte er die restlichen Accessoires für sein Frühstück zusammen und drapierte alles auf dem wenige Schritte entfernten Gartentisch neben der Waschmaschine. Als er bemerkte, dass seiner Kehle ein Trällern entschlüpfte, wusste er, dass der Traum seine beängstigende Wirkung verloren hatte. Rührei und Kaffee waren fertig, das Gas abgedreht und Maria ließ sich, äußerst zufrieden mit sich und der Welt, in den wackligen Regisseursessel vor seinem nicht minder baufälligen Klapptisch sinken.
Die nächsten Minuten widmete er sich ausschließlich dem Wechselspiel von Brot-Abbeißen, Rührei-Balancieren und Kaffeeschlürfen. Kein Radio, nicht einmal eigene Gedanken ließ er zu. Trotz des kurzen Anflugs von Fernweh, anschließend nicht im nahezu körperwarmen Meer eine Runde ziehen zu können, was vor drei Tagen noch möglich gewesen war, fand er den Morgen gänzlich vollkommen. Fast während der kompletten Mahlzeit spürte er sein zufriedenes Grinsen ganz bewusst und, wenn der Mund zwischendurch leer war, erlaubte er sich sogar ab und an ein wohliges Schnauben. Erst als er das letzte Bröckchen zwischen den Gabelzinken gefangen und weggeputzt und den Rest des Cappuccinos geschluckt hatte, erlaubte er seiner Wahrnehmung, sich aus dem begrenzten Bereich Teller-Besteck-Körper zu weiten.
Bei einer zweiten Tasse Kaffee wendete er sich dem Traum zu, denn er spürte, dass so Eindrückliches Beachtung forderte. Es war gut, dass er sein Erlebtes ernst nahm, denn es sollte sein Leben nachdrücklich verändern.
Schon während die Kaffeemaschine schnarrte, rief er sich seine Sitzung bei dem Nadi in Indien ins Gedächtnis. Dieser hatte ihn zuerst mit seinem Wissen über Marias Vergangenheit beeindruckt. Das Anschließende hingegen hatte er als unbefriedigend empfunden: Gehe den Weg, den dir dein Herz weist, und achte auf die Zeichen. »Wie banal allgemein!«, hatte er sich damals gesagt. Es kam also offenbar jetzt darauf an, mit dieser Botschaft doch etwas anzufangen. Nur was? Herz … Zeichen …
Gedankenverloren ließ er Teller, Pfanne und Besteck in die Spüle gleiten und räumte die Lebensmittel auf. Als er zu seinem Ohrensessel beim Fenster schlenderte, neben dem sich auf einem Tischchen eine angefangene Schachpartie geduldete, kam ihm der frühe Morgen in den Sinn. Er schlürfte geräuschvoll einen Schluck aus der neu befüllten Kaffeetasse, stellte sie zwischen die Figuren und lehnte sich zurück.
Es war die Szene, die ihm nun einfiel, wo sich Freud mangels Aufmerksamkeit beleidigt aus dem Spiel genommen hatte. Er kannte von ihm, dass er sein Diskutierbedürfnis stets rigoros durchzusetzen versuchte. Was er hingegen von ihm nicht gewöhnt war, dass er sich bei Nicht-Erreichen seines Ziels gekränkt abwandte. Er wusste üblicherweise immer, wann eine Schlacht verloren war und fügte sich darein. Nicht so vor wenigen Stunden. Das war auffallend gewesen! Drogen, ja um Drogen drehte es sich. Drogen … er fühlte dem Begriff nach, holte Gesprächsfetzen aus der Nacht zur Verstärkung und versuchte, aus Erlebtem und Gefühltem, Zutat um Zutat hinzufügend, einen befriedigenden Cocktail zu mischen. Warum nimmt jemand Drogen? Flucht? Natürlich, dachte er, weglaufen, wegbeamen. Pech dabei, dass Drogen teuer sind und vor allem, dass sie abhängig machen. Maria grinste: Wie die Liebe, da will man auch immer mehr. Sogar Fälle von tödlicher Überdosis sind bekannt. Ungefährliche Drogen als Ersatz für gefährliche – hört sich doch gut an, oder? Maria spürte unerklärlichen Entdeckereifer in sich aufsteigen, er kam sich vor wie ein Detektiv, dessen Nase von einer heißen Spur in eine bestimmte Richtung gezogen wird. Unschädliche, legale Drogen … das wäre gewiss etwas. Erst viel später im Rückblick fiel ihm auf, dass es sich anfühlte, als hätte ihn in diesen Augenblicken jemand an der Hand von Eingebung zu Eingebung geführt.
Aufgeregt begann er in seiner Kleinformat-Wohnung auf- und abzutigern, die Arme auf dem Rücken verschränkt, der Blick brannte förmlich Bahnen in den abgetretenen, stumpfen Linoleumboden. Was kann jemanden aus der Gegenwart entkommen lassen, ohne zugleich schädliche Droge zu sein? Plötzlich blieb er stehen, schloss die Augen und sprach seinen Gedankenblitz laut aus: Bücher! Das Wort stand kurz im Raum, nicht unähnlich einem kunstvoll geblasenen Rauchkringel. Und nun? Schon sah er, wie sich das luftige Kunstwerk aufzulösen begann. Krampfhaft hielt er an den letzten Schwaden fest. Nicht einfach nur Bücher, nein, es musste etwas Besonderes im Zusammenhang mit Büchern sein. Das Bild wechselte und die gemütliche Stimmung gestern im Café tat sich in ihm auf. Nach kurzer Unbeweglichkeit sammelte er seine Kräfte wie ein Diskuswerfer und hieb gleich darauf die Faust so vehement in die Luft, als wollte er in sie, trotz ihres geringen Widerstands, ein Loch reißen. Dabei brüllte er ein ohrenbetäubendes »Ja!«
Gegen Abend ging Maria wiederum ins Café Sperl, und wie gehabt waren die meisten seiner Freunde da. Mia gesellte sich gleich zu ihm und Maria fiel erstmals der Zusammenhang von Mia, miau, kuscheln und dem prompten Anpirschen auf, kaum dass er auftauchte – ja, Mia hatte etwas Katzenartiges. Nur, dass sie gurrte, anstatt zu schnurren. Er setzte sich neben sie, legte den Arm um ihre Schulter, blickte in die Runde und wartete einen Augenblick ab, in dem er sich der allgemeinen Aufmerksamkeit gewiss sein konnte.
»Folks«, sagte er in alter Westernmanier, sobald er den Zeitpunkt als gekommen erachtete, »ich hatte eine Erleuchtung!« Die Verblüffung war allgemein, auch wenn man ihm nach einem halben Jahr Asien einiges zutraute.
»Wir machen ein eigenes Café auf!« Das Ergebnis seiner Aussage war die pure Ernüchterung. Bevor die Clique sich enttäuscht wieder in Einzelgespräche zerfransen konnte, fuhr er fort: »Aber kein normales!« Er kostete die wieder entstandene Ruhe aus und ließ seine Katze aus dem Sack: »Wir machen ein Drogencafé.«
Die Reaktionen fielen differenziert aus. »Cool« und »Du spinnst« waren die häufigsten Kommentare. Schließlich brachte Lars auf den Punkt, was sich alle fragten: »Meinst du das ernst?«
»Ja«, sagte Maria, »klar! Aber ein Café für legale Drogen.« Nun redeten alle durcheinander, und als sich der Tumult etwas legte, erklärte er: »Wir machen ein Vorlesecafé. Jeden Tag am Abend, ab sagen wir … einundzwanzig Uhr – im Sommer eine Stunde später – liest jemand von uns vor. Ein großer Raum nur dafür, eine Menge Matratzen und an der Wand Nischen, wo die Leute Getränke abstellen können.« Das allgemeine Murmeln zerfiel in ein paar Gesprächsgruppen, die untereinander den Vorschlag diskutierten.
Schließlich legte Maria den Rest seiner Karten auf den Tisch: »Das Café könnte Drogen heißen, und daneben machen wir einen Shop für Bücher, Hör- und Elektrobücher auf, den wir Drugstore nennen. Wie wäre das?«
»Ach ja«, rief er noch schnell in die Gruppe, bevor die Gespräche wieder aufflammen konnten, »und ich finde, dass sämtliche Bücher solche sein sollten, die Hoffnung geben oder zumindest humorvoll sind. Alles in allem eine Droge gegen den ganzen depressiven Wahnsinn, der sich überall breitmacht. Und der wohl auch bei manchen die Ursache für den Konsum schädigender Drogen ist.«
Das Springen der Lachse
»Und – wie lange ist das her?«, fragt der Kellner Maria, als sie wieder aus dessen Geschichte aufgetaucht und in den leise schwankenden Speisewagen zurückgekehrt sind.
»Fünf Jahre.«
»Und – habt ihr das Café aufgemacht?«
»Natürlich. Und auch den Buchladen daneben. Für die Vorleseabende haben wir noch einen zweiten Raum ausgebaut, seit drei Jahren gibt es zwei parallele Vorleseprogramme.«
Klaus hat nun doch ein paar Dinge zu erledigen und Maria lehnt sich zurück. Die Sonne schickt ein unnachsichtiges Licht auf die Landschaft, die darin nackt aussieht, weder im Schnee- noch im Blätterkleid.
Als sich die Erinnerung an Ashley erneut breitmachen möchte, schickt er sie mit einem neuen Gedanken wieder weg: Ist er nicht aus dem Grund unterwegs, um im Fluss des Lebens schwimmend die Frau zu finden? Wenn er sich dem Fluss hingibt, muss auch dieser Blackout seinen Platz darin haben. Am Ende ist es gar nicht Ashley, die er sucht. Beide Varianten beruhigen ihn und er widmet sich wieder der Sicht aus dem Fenster. Draußen fliegt die Landschaft vorbei, je näher, desto schneller und übt einen hypnotischen Sog auf ihn aus. Aus den verwischten Strichen der Büsche unten vor der Scheibe steigt die Erinnerung herauf, wie es überhaupt zu dieser mystischen Bahnfahrt gekommen ist.
Es war vor etwa zwei Jahren. Seit damals lebte Maria allein. Nicht dass es an Gelegenheiten gemangelt hätte, aber nach seiner Rückkehr aus dem Fernen Osten hatte sich etwas in ihm verändert. Er konnte nicht einmal genau beschreiben, was es war, aber er fühlte sich zunehmend unwohl in seinen Frauenbeziehungen. Als ihn ein Freund einmal scherzend fragte, ob er vielleicht schwul wäre, war er sogar dieser Mutmaßung nachgegangen. Er kam allerdings nach eingehender Selbstbeobachtung zu dem Schluss, dass dem nicht so war. Einerseits hatte er Sehnsucht nach einer Gefährtin. Aber wenn er eine hatte, schlich sich bald ein seltsam leeres Gefühl ein, von dem es lange dauerte, bis er es in Worte fassen konnte. Als es ihm schließlich gelang, war es ein Satz: Ich fühle, dass ich sowohl sie als auch mich mit dieser Verbindung davor abhalte, den wahrhaftigen Partner sehen zu können. Mit diesen Worten hatte er sich vor etwas über zwei Jahren auch von Sarah getrennt. Sie hatte es nicht verstanden, waren sie doch ohne drastische Meinungsverschiedenheiten über ein Jahr zusammen gewesen.
Natürlich hatte das Thema Maria immer wieder beschäftigt. Unternahm er alleine etwas Herzöffnendes wie Ausflüge, Ausstellungs- oder Kinobesuche, hatte er das Bedürfnis, es zu teilen und damit zu vertiefen. Und was geht über ein beiläufiges Gespräch beim Frühstück beziehungsweise vor dem Zubettgehen? Und doch hatte ihn seine Erkenntnis davor bewahrt, dem Wunsch nach einer festen Beziehung nachzugeben. Freilich gab es Fälle, wo ein Spannungsabbau unvermeidlich geworden war, aber das waren jeweils nur kurze, gierige Begegnungen geblieben.
Vor einer Woche war er mit einem gewissen Unmut zu dem Schluss gekommen, dass zwei Jahre Beziehungsabstinenz reichen, und hatte am Abend eine Bitte ans Universum gerichtet. Es möge doch so freundlich sein, ihm baldmöglichst ein Zeichen zur Abhilfe aus dieser suboptimalen Lage zu schicken. Denn im Erkennen von Zeichen war er mittlerweile geübt.
Vor drei Tagen nun durchradelte er das Viertel, in dem er wohnte. Ziellos strampelte er irgendwo durch Hütteldorf, schaute in Gärten, wo es Hecken oder Mauern zuließen und wurde in seiner Meinung bekräftigt, dass diese Jahreszeit trostlos war. Dann bogen vor ihm drei Radfahrer ein. Es war zwar nicht ausgesprochen knapp, doch sicherheitshalber zog er an den Bremshebeln. Von da ab fuhren sie vor ihm her oder er hinter ihnen, wie man es sehen mag. Es ist nichts Außergewöhnliches, dass sich Radler begegnen, zumal es einer der ersten warmen Tage dieses Jahres war und ein Sonntag obendrein. Was dem Ganzen jedoch einen einzigartigen Anstrich verlieh, war das Outfit des Trios. Sämtliche trugen Westen über ihren Sweatern. Das fand Maria an und für sich schon bemerkenswert, aber nicht zu übersehen war der Pfeil am Rücken der Westen. Ein breiter Pfeil nach oben in allen Regenbogenfarben. Anhänger einer ihm unbekannten Rainbow-Sekte? Treue Fans einer Firma, die namentlich nicht erwähnt sein wollte? Optimisten, die der Ansicht waren, dass es bergauf ging?
Über all diese Varianten lächelte er zwar, doch andere Gedanken beschäftigten ihn mehr. Wenn einem etwas dermaßen auffällt, ist das zweifelsfrei keine sinnlose Erscheinung.
Marias Sinne waren alarmiert.
Er rätselte eine Weile, welche Botschaft die vor ihm radelnden Herren in ihren hellgrauen Westen mit dem aufwärtsgerichteten Regenbogenpfeil für ihn bereithalten mochten. Keiner der Einfälle stellte ihn zufrieden, also versuchte er sich in Wortspielen. Von unsinnigen wie Westenbogen über Dreiwestenpfeile bis nur geringfügig sinnhafteren wie drei Regenbogen voraus oder gehe dreimal aufwärts zum Regenbogen. Auch eine pragmatische Variante drei bunte Pfeile auf drei Westen war dabei. Allein das große Aha-Erlebnis blieb aus. Was war das Charakteristische daran? Die Zahl Drei? Drei Männer mit identischen Westen. Auf jeder ein Pfeil, der nach oben oder vorwärts zeigte. Er konnte sich keinen Reim darauf machen und verfolgte die Drei ganz automatisch in dem Versuch, seinen Assoziationsspeicher neu zu formatieren. Man kann auch sagen, er versuchte seinen Kopf leer zu bekommen, um Platz für Neues zu schaffen.
Drei Westen zeigen nach vorne. Nach Westen, ha ha, aber dann fand er diese Variante gar nicht mehr so abwegig. Denn sie waren tatsächlich schon die ganze Zeit genau Richtung Westen unterwegs! Akkurat in diesem Augenblick verlangsamten die drei Radler ihr Tempo, fuhren rechts ran, blieben bei einem Häuschen stehen, rollten ihre Räder durchs Gartentor und gingen zu dem dahinterliegenden Haus. Maria hatte sich in einiger Entfernung gehalten, um das Bild der Pfeiltransporteure in einem größeren Kontext sehen zu können. Näherkommend sah er hinter der Hecke, um das Haus verteilt, noch mehr Leute in identischer Aufmachung: Sweatshirts mit hellgrauer Weste. Wo er einen Blick auf deren Rücken werfen konnte, erkannte er auch den gleichen Pfeil. Ein Pfeilwestentreffen? Was es so alles gibt, murmelte Maria, während er wieder aufsaß und für den Heimweg in die Pedale zu treten begann.
Dass die Herren ihn zu einer Lösung für sein Anliegen führen würden, hatte er nicht anzunehmen gewagt, doch insgeheim gehofft. Trotzdem fühlte er sich gefoppt, denn er konnte es schwer aushalten, nicht zu wissen, was Sache ist. Das einzig für ihn Schlüssige aus dem merkwürdigen Erlebnis war die Aussage nach Westen. Und nun? Aus Erfahrung wusste er, dass er unter den Ideen, die nun in ihm aufsteigen würden, diejenige wählen sollte, bei der er das beste Gefühl hatte. Weder Bekannte noch Freunde – und schon gar nicht seine Eltern – hätten eine derartige Vorgangsweise nachvollziehen können. Überhaupt war er aus der Sicht seines Bekanntenkreises durch seine Denkweise immer tiefer in einen Bereich des nicht Nachvollziehbaren, sogar Unheimlichen, entschwunden. Sie konnten mit derlei Verhalten nichts anfangen und hielten sich auf sicherer Distanz. Das zeigten sie natürlich nicht offen, aber er merkte, dass seinen Aussagen mitunter nicht die übliche Ernsthaftigkeit entgegengebracht wurde. Er hatte sich daran gewöhnt, zumal seine Erfahrungen mit dieser neuen Verbundenheit mit dem Universum ausschließlich hilfreiche waren und ihn mit einer ungekannten Geborgenheit entschädigten. Die einzige Ausnahme bildete Mia. Sie akzeptierte seine von allen als Marotte abgetane Philosophie. Sie hörte ihm in vollem Ernst zu, wenn auch manchmal mit Verwunderung im Blick. Ja, Mia war schon ein besonderes Wesen, daran gab es keinen Zweifel und er fühlte sich beschenkt, mit ihr so gut befreundet sein zu dürfen.
Er war den Herren eine beträchtliche Strecke gefolgt. So hatte Maria auf dem langen Rückweg genug Zeit, sich zu überlegen, wie er nach Westen am sinnigsten umsetzen könne. Sich an einen stillen Fleck meditierend zurückzuziehen, mit Blick nach Westen, kam ihm insofern unattraktiv vor, als er nicht gerne meditierte. Es sollte demnach etwas sein, wo er im Zusammenhang mit nach Westen tätig werden konnte. Zuletzt reifte in ihm die Überzeugung, nach Westen aufzubrechen, wäre die tauglichste Lösung. Einfach so nach Westen verreisen? Warum nicht! Wenn es in weiterer Folge um Kontakt gehen sollte, und darum ging es bei seinem Anliegen eindeutig, wäre es sinnlos, mit dem Auto loszubrausen. Vielmehr war es notwendig, dem Schicksal die Chance zu geben, ihm Menschen in den Weg zu führen. Somit fiel seine Wahl auf das einzig passende Reisevehikel: die Eisenbahn. Eine Zugfahrt ins Ungewisse. Mit Ausrichtung Westen.
Wieder zuhause stellte er sein Fahrrad in den Flur seiner Wohnung. Maria glaubte zwar in wohlwollendem Einvernehmen mit dem, zu stehen, was er als Universum bezeichnete, zugleich hatte er aber mittlerweile gelernt, dass das kein Freibrief dafür ist, keine Vorkehrungen treffen zu müssen. Obwohl er kein Freund kirchlicher Sprüche war, war er davon überzeugt, dass man sich zuerst selbst bestmöglich helfen solle, bevor man auf die Resterledigung durch den lieben Gott hoffen dürfe.
Nach flüchtiger Dusche und kurzer Jause begab er sich in ihr Café Drogen. Es war mittlerweile neunzehn Uhr und sowohl Hannah als auch Harry, seine beiden Kompagnons, waren mit Gästen beschäftigt. Seine Idee hatten sie alle gemeinsam umgesetzt, eine geeignete Location entdeckt und darin Vorlesecafé und Buchladen eingerichtet. Während er, Hannah und Harry die Konstanten bei dem Projekt waren, machten eine ganze Menge ihrer Freunde bei Bedarf in unterschiedlicher Funktion mit. Sei es in der Küche – in der nur kleine Gerichte bereitet werden – im Service oder beim Vorlesen. Der Gewerbeträger wurde Harry, ein gelernter Koch, der sich schon immer eine eigene Kneipe gewünscht hatte. Da war ihm Marias Idee wie gerufen gekommen.
In einem ruhigen Moment nahm Maria die beiden beiseite und eröffnete ihnen, dass er sich für ein paar Tage auf einen Weg ins Ungewisse machen wolle. Für Hannah und Harry waren solche Anwandlungen nichts Neues und so schüttelten sie nicht einmal den Kopf, als er ihnen kurz den Hintergrund seines Vorhabens offenbarte. Wenngleich die beiden auch zu den Leuten zählten, die Maria manchmal lieber skeptisch aus einer gewissen Entfernung beobachteten, standen sie doch hinter ihm, wenn es darauf ankam. Deshalb gab es keine Diskussion und ein Problem schon gar nicht.
Das alles lässt Maria an seinem inneren Auge vorbeiziehen, so, wie draußen die Landschaft, die nichts zum Anziehen hat, immer noch vorbeiwischt. Klaus, der Kellner, ist mit seinen Verrichtungen fertig und setzt sich wieder an den Tisch.
»Du bist schön mutig«, sagt Klaus zum Einstand.
Maria blickt auf. »Mutig?«
»Wenn ich mich Maria nenne, dann hauen die sich voll ab, die Deppen, die ständig was zum Ablästern suchen.« Sein Mund zieht sich in die Breite.
»Dagegen gibt es ein geheimes Mittel«, erklärt Maria augenzwinkernd, »Interessiert dich das?«
»Geheim? Klar, immer!«
»Wenn etwas für dich absolut okay ist und du nicht den geringsten Zweifel daran hast, dann kannst du so ziemlich alles tun, ohne dass du schräg angesehen wirst.«
Klaus atmet schwer aus und blickt auf die Tischkante. »Schön wär’s.«
»Doch. Stell dir mal vor, dass du nach China reist.« Maria hat beide Arme auf den Tisch gelegt und sich vorgelehnt. »Es ist bekannt, dass es dort eigenartige Spezialitäten zum Essen gibt. Zum Beispiel in Bananenblätter eingewickelte und kurz über dem Feuer geröstete Vogelspinnen. Oder nimm frittierte Bambuswürmer. Schmecken ähnlich wie Pommes. Wenn ich dir das jetzt erzähle, dann denkst du wahrscheinlich, dass ich einen Sockenschuss habe. Wenn dir das aber dort von einem Chinesen vorgestellt wird, dann wirst du vielleicht würgen, aber nicht anzweifeln, dass man das dort isst, oder?«
»Na ja … ätzendes Beispiel«, mault Klaus und verzieht angewidert das Gesicht.
»Okay, stimmt. Aber du verstehst?«
»Und das funktioniert?« Er legt den Kopf schräg und blickt Maria aus zusammengekniffenen Augen an.
»Immer. Das Problem ist ausschließlich Zweifel. Wenn du etwas behauptest oder tust und hast selber Zweifel, dann klappt es nicht. Man merkt, dass es unecht ist. Und genau das ist der Haken dabei.«
»Hast du ein anderes Beispiel? Eins, das ich kapiere?«
»Hm …« Maria hebt die Brauen, schürzt die Lippen und blickt zur Decke. Dann glättet sich seine Miene und er wendet sich an sein Gegenüber. »Ein Bekannter ist ein perfekter Öko-Freak. Er hat ein gut gehendes Geschäft mit Bio-Artikeln. Neulich fuhr er auf der Südautobahn bei einer Hunderter-Beschränkung gemütlich mit hundertfünfzig dahin. Eine Zivilstreife stoppte ihn und erklärte ihm den Grund. Der Typ war daraufhin echt – also wirklich echt! – entsetzt und sagte, dass eine Strafe absolut gerechtfertigt sei, es täte ihm so leid, dermaßen unachtsam gewesen zu sein. Er hat keine Strafe bekommen, denn der Plattfüßler hat ihm das abgenommen! Klingt krass, ich weiß, aber ich kenne den Mann, der ist wirklich so und hat das auch tatsächlich so gemeint! Seine Überzeugung kommt einfach!«
»Und das klappt bei allem?«
»Immer, außer es ist zu abwegig.«
»Hm …«
»Es würde sicher bei deinem Job klappen. Wenn du von deiner Vision überzeugt bist, schaffst du es!«
»Und die Zweifel? Was mach ich mit denen?«
»Schauen, woher sie stammen – ständig wird es im Leben notwendig, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Es gibt zwei Arten von Zweifeln. Die einen kommen aus der Vergangenheit. Zum Beispiel hat ein Vater dauernd wiederholt ›Du bist zu dumm, du kannst das nicht‹. Das vergisst man nicht. Oder ›was Künstlerisches brauchst du gar nicht zu probieren, das liegt dir nicht‹. Das merkt man sich auch. Wenn man später etwas entscheiden soll, dann lauern immer diese Sprüche im Hinterhalt und vereiteln sogar schon ein Denken in ungewohnter Richtung, geschweige denn, dass man sich genauer damit auseinandersetzt. Diese Zweifel fühlen sich anders an als die, bei denen du merkst, dass es einfach nicht stimmig ist, nicht passt.«
»Und wie kann ich die auseinanderhalten?«
»Das ist Übung. Zusehen, ob dir das Gefühl von irgendwoher bekannt vorkommt. Am besten in der Kindheit suchen. Wenn du sich dort an ähnliche Gefühle erinnerst, dann ist es durchaus wahrscheinlich, dass es sich um angelernte Urteile handelt. Verstehst du ungefähr, was ich meine?« Maria sieht Klaus prüfend an. Der hat den Blick auf seinen Daumen gerichtet, der mit dem Nagel über den anderen Daumennagel schabt.
»Das klingt alles so einfach …«, murmelt er. Maria hofft, dass er jetzt nicht aufgibt.
»Ach Klaus, ich kann dich gut verstehen! Mir ging’s doch genauso wie dir! Als ich damals aus Indien heimkam, war ich völlig frustriert. Klar war es dort dreckig, aber es war bunt! Es war so weit weg von zuhause! Hier bei uns kam mir danach alles so entsetzlich eng vor! Hier gibt es für jeden Furz ein Gesetz, eine Verordnung. Und was so nicht geregelt ist, das tut man eben nicht. Was bleibt denn da an Freiheit, an Möglichkeiten übrig? Was mir letzten Endes weitergeholfen hat, war der Spruch des Nadis. Zum Glück ist er mir wieder eingefallen! Ich hab danach ständig trainiert und jetzt bin ich ziemlich sicher, in einer Situation das Passende zu tun. Ich weiß, ob ich etwas machen soll oder nicht. Allerdings – frag mich nicht, warum das alles funktioniert. Davon hab ich keine Ahnung! Ich bin mir jedoch gewiss: Wenn du die echte Sehnsucht nach etwas hast und irgendetwas Großes – egal, Gott oder Allah oder Universum – an das du glauben kannst, bittest, dann bekommst du sicherlich einen Hinweis. Aber auch die Fingerzeige sind bei jedem unterschiedlich. Manche Leute gehen zum Bücherschrank, ziehen ein Buch heraus, schlagen es irgendwo auf und zeigen auf eine Stelle. Dort steht dann ein Satz, der für sie hilfreich ist. Andere verwenden Karten. Bei mir funktioniert das alles nicht, sondern nur das Spüren, ob ich im Fluss bin oder nicht. Allerdings das, was mir der Nadi erzählte, also dem Herzen folgen und auf Zeichen achten … ich glaube, das klappt bei fast allen. Aber sicher nicht bei jedem gleich, da musst man seinen persönlichen Zugang finden. Weißt du, für das Leben gibt es keine Rezepte.«
»Glaubst du, das geht bei mir auch?« Seine Stimme hat an Bestimmtheit zugelegt.
Maria leert mit einem Schluck sein Bierglas. Dann blickt er Klaus an: »Wenn ein Blatt in einen Bach fällt – was wird damit passieren?«
»Na, es wird davonschwimmen.«
»Genau. Und warum?«
»Kapier ich nicht.«
»Warum schwimmt das Blatt den Bach hinunter, wenn es hineinfällt?«
»Weil das Wasser hinunterfließt?«
»Richtig. Kennst du Lachse?«
»Auf Brötchen.«
Maria grinst. »Lebende?«
»Nein.«
»Weißt du, was Lachse machen, wenn sie sich vermehren?«
»Bumsen …?«
»Und wie bereiten sie das vor?«
»Kerzen? Nette Musik?«
»Mensch, Klaus, das soll eine Metapher werden, kein Witz!« Maria blickt gespielt verärgert drein, obwohl ihn die praktischen Antworten von Klaus amüsieren.
»Sorry, ich weiß nicht, worauf du hinaus möchtest!«
»Du hast Recht, die Fragen waren irreführend. Lachse leben üblicherweise im Meer, also Salzwasser. Zum Laichen wandern der atlantische und pazifische Lachs in Flüsse. Das ist schon etwas Besonderes, denn sie müssen sich der veränderten Salzkonzentration anpassen. Aber dann geht es erst richtig los! Sie schwimmen die Flüsse hinauf! Dabei überwinden sie sogar niedrige Wasserfälle und Wehre und gelangen auf diese Weise weit hinauf in den Oberlauf der Flüsse.«
»Cool …«
»Ganz anders als das Blatt oder?«
»Die können aber immerhin schwimmen!«
»Natürlich. Wenn sich ein Lachs allerdings nicht bewegt, dann wird auch er von der Strömung abwärts getrieben. Sie verwenden ihre Fertigkeit, um flussaufwärts zu gelangen. Zusätzlich scheinen sie das Gesetz der Schwerkraft kurzzeitig aufheben zu können und springen sogar Wasserfälle aufwärts!«
»Was willst du mir damit sagen?«
»Es kommt nicht drauf an, was üblich ist. Üblich ist, dass etwas abwärts schwimmt, wenn es in einen Fluss gelangt. Meistens tun wir, was üblich ist. Wir schwimmen abwärts, wir schwimmen mit dem Strom, wie man ja sagt. Wir schwimmen aber auch mit dem Strom unserer eigenen Vorstellungen, mit dem Strom dessen, was man uns gelehrt hat. Wenn die Vorstellung sagt, dass man etwas nicht kann, dann gibt man genau dort auf. Aber jeder von uns hat die Fähigkeit der Lachse in sich! Klaus, du kannst anders schwimmen, als man es dir beigebracht hat. Du kannst sogar anders springen! Merk dir einfach den Satz: Du kannst dorthin springen, wohin du möchtest – wie ein Lachs!«
Klaus schweigt daraufhin, legt seine Stirn in Falten und blickt wieder auf seinen Daumen. Nach einer Weile entspannt sich seine Miene und ein unmerkliches Leuchten überzieht sein Gesicht. Es wirkt auf Maria, als ob eine hartnäckige Wolke, die ihn sein ganzes Leben beschattet hat, durch eine Sonne auflösen würde.
»Ich glaube, ich kapiere, was du mir sagen willst …«, sagt er langsam. Seine Stimme hat einen anderen Klang. Maria glaubt aus ihr die Kraft zu ahnen, derer sich auch Lachse für ihre außergewöhnliche Reise bedienen.
»Ja, Klaus, ich glaube auch, dass du verstehst. Ich weiß, dass du deinen Weg gehen kannst, gleichgültig, wie ungewöhnlich er sein mag!« Er greift in seine Jacke und zieht aus der Innentasche eine flache silberne Box. Er entnimmt ihr eine Karte und reicht sie Klaus hinüber. »Weißt du was? Ich geb dir hier meine Kontaktdaten. Wenn du mal Zweifel hast oder den Mut verlierst, dann meld dich einfach, okay? Du kannst mich auch mal besuchen kommen, wenn du magst. Würde mich freuen!«
»Okay … danke!«
»Gern! Lass von dir hören!«