Nur sieben Worte – Begegnung – Leseprobe

Teil I – Begegnung

Das, was wir als un­ser Le­ben be­trach­ten,
ist nur die Spit­ze des Eis­bergs un­se­res Seins.

Ziemlich mies

Er tas­te­te nach dem schril­lenden beigen Kas­ten, zog ihn zu sich ins Bett, grunz­te, nes­tel­te nach dem Hörer, dreh­te ihn um – ver­damm­tes Natur­ge­setz, immer ver­kehrt he­rum. Sei­ne Augen­li­der kratz­ten, als er ver­such­te, sie zu öff­nen.

»Ja?« Er gab sich kei­ne Mü­he, we­ni­ger un­wirsch zu klin­gen, als ihm zu­mu­te war.

»Chef, du musst mich kom­men Hil­fe.«

War das nicht Yu­nus, ei­ner der tür­ki­schen Ar­bei­ter aus der Fir­ma? »Yu­nus … was soll das?« Er blick­te auf den We­cker und ließ sich gleich wie­der ins Kis­sen zurück­sin­ken. »Mann, es ist halb sechs!«

»Ich nichts kön­ne da­für.« Wa­rum klang der Kerl so wein­er­lich? Letz­tes Jahr hat­ten sie elf Gast­ar­bei­ter an­ge­heu­ert, alle aus der Tür­kei. Es war kei­ne so gu­te Idee ge­we­sen, aber es waren sonst kei­ne Leu­te zu be­kom­men. Und die meis­ten Deut­schen hat­ten kei­ne Lust, am Bau zu ar­bei­ten. Aber was soll­te man ma­chen. Na­tür­lich konn­te Yu­nus nichts da­für. Es konn­te so­wie­so nie je­mand et­was da­für.

»Ja na­tür­lich«, seufzte Bern­hard und setz­te sich auf die Bett­kan­te. »Was ist los?«

»Ich ste­he an Kreu­zung bei die Haupt­stra­ße, vor­ne bei Auto­haus von die Opel. Ha­be Trans­port die Kran und Pro­blem mit Kur­ve.«

»Was?« Bern­hard kniff die Augen zu­sam­men, jetzt koch­te sein Är­ger auf mitt­le­rer Flam­me. »Weil du Pro­ble­me mit ei­ner Kur­ve hast, rufst du mich an? Jetzt, halb in der Nacht?« Er at­me­te tief durch, da­mit ihm kei­ne Grob­heit ent­kam. We­nigs­tens war er wach und das oh­ne Kaffee.

»Na weißt du, ich ste­cken fest …«

Ru­hig, sei ru­hig, er­mahn­te er sich. Es war ihm schon klar, wo Yu­nus Pro­ble­me be­kom­men hat­te. Vor dem Opel-Auto­haus Benz mach­te die Stra­ße ei­nen Knick, dann waren da zwei mäch­ti­ge Lin­den. Zum Glück war jetzt noch kaum Ver­kehr, denn die­se Stel­le konn­te man nur groß­räu­mig um­fah­ren.

»Yu­nus war­te dort, ich komm rü­ber.« Da­mit leg­te er auf. ›War­te dort‹? So ein Blöd­sinn, was denn sonst! Na egal.

 

Ei­ne hal­be Stun­de spä­ter sah er schon aus der Ferne das De­ba­kel. Der Auf­lie­ger mit dem Kran war an sich ein be­ein­drucken­des Un­ge­tüm. In dem Bild aber, das sich Bern­hard jetzt bot, wirk­te er be­droh­lich. Im wahr­sten Sinn des Wor­tes turm­hoch – oder rich­ti­ger: turm­lang – steck­te er ver­keilt zwi­schen den bei­den Lin­den und der Fried­hofs­mau­er. So, als ob man ei­nen Kor­ken in ei­nen Fla­schen­hals ge­steckt hät­te – kom­plett dicht.

Bern­hard ließ sei­nen Al­fa Ro­meo Giu­lia in der Ein­fahrt zur Tank­stel­le ste­hen. Nach ein paar Schrit­ten dreh­te er sich noch ein­mal um und warf ihm – nein ihr, sei­ne Ge­lieb­te Giu­lia war ja ei­ne Sie – noch ei­nen lie­be­vol­len Blick zu. Dann wand­te er sich dem De­sas­ter zu. Er zwäng­te sich durch die Lü­cke zwi­schen dem Kran­ge­rüst und der Lin­de und stand Yu­nus ge­gen­über. Der lehn­te an der Fahr­er­ka­bi­ne und rauch­te ei­ne Zi­ga­ret­te. Von sei­ner Pa­nik am Tele­fon war nichts zu be­mer­ken. Wie immer. Bern­hard fühl­te wie­der Un­wil­len in sich auf­stei­gen. Zu­erst ar­beit­eten die Ker­le ge­dan­ken­ver­lo­ren vor sich hin – ge­dan­ken-ver­lo­ren. Was heißt hier ver­lo­ren? Noch nie wel­che ge­habt. Egal. Sie wurs­tel­ten immer ir­gend­et­was zu­sam­men und dach­ten nicht die Boh­ne da­rüber nach, was sie ta­ten. Wie jetzt eben.

»Ah, Chef, du ma­chen!« Er grins­te, of­fen­sicht­lich er­leich­tert, die Ver­ant­wor­tung ab­ge­ben zu kön­nen. Wie prak­tisch. Er soll­te jetzt al­so den Kar­ren aus dem Dreck zie­hen. Wie­der ein­mal. Nein: wie eigent­lich immer. Und das um sechs Uhr mor­gens.

Er kniff die Lip­pen zu­sam­men, ver­grub sei­ne Hän­de tief in den Ho­sen­taschen und um­run­de­te die Fahr­er­ka­bi­ne des Last­wagens. Da sah er das eigent­li­che Dra­ma, das Yu­nus wohl­weis­lich ver­schwie­gen hat­te. Ei­nen Me­ter vor der Lin­de stand ei­ne Tele­fon­zel­le. Bern­hard er­in­ner­te sich gut an sie, weil er hie und da von hier aus tele­fo­nier­te. Sie lag in der Mit­te der Stre­cke von sei­ner Woh­nung zum Büro. Nur stand sie jetzt nicht. Sie lehn­te in der­sel­ben Nei­gung an der Lin­de, in der sich Yu­nus an den Kot­flü­gel ge­lüm­melt hat­te. Yu­nus hat­te sie ein­fach mit­samt dem Fun­da­ment aus­ge­ris­sen und dann leicht zerk­nautscht ver­mut­lich im Rück­spiegel ent­deckt. Na, dem war wohl der Arsch or­dent­lich auf Grund­eis ge­gan­gen! Trotz der un­an­ge­neh­men Si­tua­tion grins­te Bern­hard bei dem Ge­dan­ken, wo­bei er da­rauf ach­te­te, dass Yu­nus sei­ne Mi­mik nicht mit­be­kam. Ab­ge­se­hen da­von sah die zerk­nüll­te, ent­wur­zel­te Tele­fon­zel­le ko­misch aus, ur­ko­misch, so, als ob sie in die Faust ei­nes zor­ni­gen Rie­sen ge­ra­ten wä­re. Dann zwang er wie­der Ernst und Är­ger auf sein Ge­sicht und dreh­te sich zu Yu­nus um, der ihm ge­folgt war.
»Schei­ße, Chef«, sag­te der.

»Das kannst du laut sa­gen«, gab Bern­hard zurück, um ein un­wil­li­ges Knur­ren be­müht. Die­sen Gast­ar­bei­tern ge­gen­über durf­te man nicht zu freund­lich sein, sonst war man ver­kauft. »Setz dich hin­ein und set­ze zurück, ich di­ri­gie­re dich.«

Yu­nus nick­te und klet­ter­te in den Füh­rers­tand. Nach kur­zem Start­er­wum­mern sprang der Die­sel an und knir­schend leg­te Yu­nus den Rück­wärts­gang ein. Bern­hard zuck­te bei dem Ge­räusch zu­sam­men und be­ob­ach­te­te, wie der Mann am Lenk­rad kur­bel­te und wie die Vor­der­rä­der her­um­schwenk­ten – in die fal­sche Rich­tung. Er schüt­tel­te den Kopf. Beim be­sten Wil­len konn­te er sich den fins­te­ren Schnauz­bart­trä­ger eher als Gar­deof­fi­zier oder Bürg­er­meis­ter ei­ner tür­ki­schen Klein­stadt vor­stel­len, denn als Fah­rer ei­nes zwan­zig Me­ter lan­gen Na­del­aus­le­gers.
»Yu­nus«, rief er, »ver­dammt, an­ders he­rum!« Da­zu ge­sti­ku­lier­te er wild mit den Ar­men. »An­ders! An­ders he­rum!« Doch Yu­nus saß oben in sei­ner Ka­bi­ne, blick­te mit kon­zen­triert zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Augen in den Rück­spiegel und schon ru­ckel­te der Zug nach hin­ten. Die Tele­fon­zel­le knirsch­te. Mit der fla­chen Hand, dann mit der Faust hieb Bern­hard auf den Kot­flü­gel, spür­te gleich­er­ma­ßen, wie ihm die Hand brann­te und die Zor­nes­rö­te ins Ge­sicht schoss. Doch Yu­nus schob den Last­wagen zen­ti­me­ter­wei­se nach hin­ten. Bern­hard rann­te um das Füh­rer­haus, sprang auf das Tritt­brett und häm­mer­te mit der Faust ans Fens­ter. Er­schro­cken wand­te sich Yu­nus he­rum und der Zug kam mit ei­nem bo­cki­gen Hop­ser zum Ste­hen. Du lie­be Gü­te, we­nigs­tens hat­te er ihn jetzt ab­ge­würgt. Bern­hard sprang hin­un­ter auf den As­phalt und wink­te Yu­nus, aus­zu­stei­gen. Kaum war der vom Tritt­brett ge­sprun­gen, klet­ter­te er schon selbst hoch und ließ sich hin­ters Lenk­rad fal­len. Wa­rum hat­te er es nicht gleich selbst ge­tan? In der Fir­ma müss­te er ein­mal nach­se­hen, ob der Kerl über­haupt ei­nen LKW-Füh­rer­schein hat­te. Er blieb kurz sit­zen. Wa­rum reg­te er sich so auf? Das tat er doch sonst nicht! Was war los? Egal. Er seufzte und leg­te die Hand auf die Gang­schal­tung. Jetzt galt es erst ein­mal, kei­nen noch grö­ße­ren Schaden an­zu­rich­ten. Der Auf­lie­ger stand leicht schräg, so konn­te er im Rück­spiegel nicht bis zu der Stel­le se­hen, wo der Zug ste­cken­ge­blie­ben war. Dort­hin, wo auch der in­te­res­san­te Rest der Tele­fon­zel­le stand. Er kur­bel­te das Fens­ter her­un­ter und rief Yu­nus zu, er sol­le ihn ein­wei­sen. Der nick­te eif­rig und lief auf die Bei­fah­rer­sei­te hin­über. Aller­dings so na­he ans Auto, dass Bern­hard ihn nicht se­hen konn­te. Er schnaub­te, mach­te den Mund auf und woll­te schon et­was hin­aus­ru­fen, be­sann sich aber, dass er nicht ge­hört wür­de, und schloss ihn wie­der. Und wie­der koch­te der Zorn in ihm hoch. Zum Glück waren nicht alle so … so … so sau­däm­lich. Er sprang hin­aus, um­run­de­te das Auto, über­sah Yu­nus’ er­staun­ten Blick, nahm Maß, klet­ter­te hin­ein, fuhr ein Stück zurück und wie­der­hol­te den Vor­gang ein paar Mal. Es war ihm ein­fach zu dumm, Yu­nus zu er­klä­ren, was er woll­te. Bern­hard koch­te.

Schließ­lich war er ein gan­zes Stück zurück­ge­fah­ren und die bei­den Lin­den tauch­ten hü­ben und drü­ben der Fahr­er­ka­bi­ne auf. Das Schlimm­ste war ge­schafft.

Er ließ den LKW zü­gi­ger nach hin­ten rol­len. Rechts außen sah er mit ei­nem Mal Yu­nus hef­tig mit den Ar­men fuch­teln und ein ent­setz­tes Ge­sicht ma­chen. Ja, schon gut, auf ihn wür­de er ganz si­cher nicht mehr ach­ten. Soll­te der doch selbst ein­mal fah­ren ler­nen. Aller­dings …

Er brems­te das Fahr­zeug ab und stieg aus.

»Chef … Chef …«, stamm­el­te Yu­nus und deu­te­te nach hin­ten. Was soll­te jetzt schon wie­der sein?

Und dann sah er es.

Es zog ihm den Ma­gen zu­sam­men. Die­ses Ge­fühl, bei dem die Um­welt weg­schnellt, als ob ei­nen ei­ne Gum­mi­schnur hun­dert Me­ter ins Nir­gend­wo zö­ge. Das Ge­fühl, bei dem Um­ste­hen­de sa­gen, um Him­mels Wil­len, was ist denn los, er ist ja weiß wie ein La­ken!

Mit un­si­che­ren Schrit­ten ging er auf sie zu. Auf sei­ne Giu­lia, sei­ne schwar­ze Ge­lieb­te. Der Al­fa Ro­meo, den er vor drei Wo­chen er­hal­ten hat­te, ei­nes der er­sten Stü­cke in Deutsch­land, brand­neu und brand­heiß, stand nun vor ihm. Oh­ne Heck. Denn das war un­ter dem Aus­le­ger ver­schwun­den, der so aus­sah wie ein Hund, der sein rech­tes hin­te­res Bein an­ge­ho­ben hat­te um … nun ja. Hät­te er nur auf Yu­nus’ ver­zwei­fel­tes Win­ken ge­ach­tet und sich nicht so in sei­nen Zorn ver­bohrt. Was für ein Tag. Was für ein be­schis­se­ner, be­schis­se­ner Tag!

 

Das Experiment

Bern­hard er­in­ner­te sich nicht, wann er sich das letz­te Mal so hat­te zu­sam­men­neh­men müs­sen. Er hät­te schrei­en und wild mit den Fäus­ten auf ir­gend­et­was ein­dre­schen mö­gen. Nur war er lei­der nicht allein. Woll­te er nicht zur ab­so­lu­ten Lach­num­mer wer­den, muss­te er die­sen Tief­schlag wegs­te­cken, oh­ne mit der Wim­per zu zu­cken. Wie Mar­lon Bran­do in Meu­te­rei auf der Boun­ty. Auch wenn es schon zwei Mona­te her war, dass er die­sen Film ge­se­hen hat­te – es war ihm ge­lun­gen, ei­ne Kar­te zur Pre­mie­re zu er­gat­tern – konn­te er sich noch Sze­ne für Sze­ne da­ran er­in­nern. We­ni­ge Ta­ge da­rauf hat­te er ihn noch ein­mal an­ge­se­hen, so be­ein­druckt war er ge­we­sen. Die­ser Flet­cher war schon ein ver­dammt läs­si­ger Kna­be! In­ner­lich klopf­te sich Bern­hard auf die Schul­ter, dass ihm die­ser Ver­gleich im rech­ten Mo­ment ein­ge­fal­len war. Es kos­te­te ihn kaum Mü­he, Yu­nus gleich­mü­tig zu deu­ten, er sol­le auf dem Bei­fah­rer­sitz Platz neh­men. Mit we­ni­gen Schrit­ten war er bei sei­ner Giu­lia und nahm die wich­tigs­ten Un­ter­lagen her­aus. Ab­schlie­ßen konn­te er nicht, denn der Rah­men war hoff­nungs­los ver­zo­gen.

Sei wie Flet­cher, sprach er sich Mal für Mal zu und hät­te bei­nahe ge­grinst, als er sich un­ver­se­hens für je­de Wie­der­ho­lung ei­ne Rosen­kranz­per­le durch die Fin­ger schie­ben sah. Be­hän­de schwang er sich über das Tritt­brett in die Füh­rer­ka­bi­ne und warf die Papie­re zwi­schen sich und Yu­nus. Wum­mernd kam Le­ben in den Last­zug und kraft­voll bul­ler­te der schwe­re Die­sel vor sich hin. Yu­nus wür­dig­te er trotz­dem kei­nes Bli­ckes, denn un­er­freu­li­cher­wei­se ver­lor die Flet­cher­for­mel zu­se­hens ih­re Wir­kung, als sich ihm das Bild sei­nes ge­lieb­ten, zerk­nautsch­ten Autos auf­dräng­te. Mit ei­nem ent­schie­de­nen Ruck leg­te er den Gang ein, ließ die Kup­plung kom­men und äch­zend setz­te sich der Zug in Be­we­gung.

So hat­te er sich ver­gan­ge­ne Nacht die­sen Tag wahr­lich nicht vor­ge­stellt, als er ge­spann­te Stun­den vor sei­ner Ba­de­wan­ne ver­brach­te.

 

Neun Stun­den war es her, als Bern­hard be­reits seit ei­ner Stun­de vor der Ba­de­wan­ne knie­te. Die Käl­te, die von den Flie­sen in sei­ne Bei­ne zog, be­merk­te er kaum. Das Kinn auf den Wan­nen­rand ge­stützt, nag­te er an sei­ner Un­ter­lip­pe und blick­te ein­mal auf den Was­ser­strahl, der in den vor­de­ren Wan­nen­be­reich rausch­te, dann wie­der ins Was­ser selbst. Als sein Blick die Ge­rät­schaft streif­te, die die Wan­ne in zwei Be­rei­che teil­te, wan­der­ten sei­ne Mund­win­kel in die Hö­he, wäh­rend er spür­te, wie sich sein Herz­schlag be­schleu­nig­te.

Er schien es doch tat­säch­lich ge­schafft zu ha­ben.

Wie sehr hat­te er auf die­sen Mo­ment hin­ge­ar­bei­tet!

Jah­re­lang hat­te er Mög­lich­kei­ten ab­ge­wo­gen, Kon­zep­te er­stellt und ver­wor­fen, Bü­cher ge­wälzt und ei­nen gro­ßen Teil sei­nes Ver­diens­tes in sei­ne klei­ne Werks­tatt in­ves­tiert. Wie oft hat­te er sich schlaf­los bis ins Mor­gen­grau­en im Bett ge­wälzt, von Zwei­feln zer­fres­sen. Soll­te er tat­säch­lich nichts auf die Rei­he brin­gen?

In sei­nem eigent­li­chen Be­ruf galt er als durch­aus er­folg­reich – wenn auch in be­grenz­tem Rah­men. Und ge­nau die­se be­grenz­ten Mög­lich­kei­ten ver­schaff­ten ihm manch­mal Atem­nö­te, als wä­re er ein Klau­stro­pho­bi­ker in ei­nem Auf­zug. Immer der glei­che Ab­lauf: Ei­ne neue Idee und er fühl­te sich wie ein Schiff­brü­chi­ger beim Er­spä­hen ei­ner Plan­ke. Und dann die Ent­täu­schung, wenn sich die­se als viel zu klein oder gar als Il­lu­sion ent­pupp­te. Hoff­nung – Ent­täu­schung. Ent­wi­ckeln – ver­wer­fen. Er hat­te sich so aus­ge­laugt ge­fühlt und mit je­dem Fehl­schlag kam er sich noch un­fä­hi­ger vor. Er war so weit ge­we­sen, auf­zu­ge­ben. So weit, sich mit ei­nem end­gül­ti­gen Schei­tern zu be­schäf­ti­gen, war er bis­her aller­dings nie ge­gan­gen, denn die Lee­re, die er da­hin­ter fühl­te, kam ihm schlim­mer vor als der Tod selbst. Doch vor we­ni­gen Mo­na­ten war ihm die­se ge­nia­le Idee zu­ge­fal­len. Er spür­te, an ei­nem, nein, dem wich­tigs­ten Punkt an­ge­kom­men zu sein: Alles oder nichts. Ab­sturz oder Sieg.

»Ja«, flüs­ter­te er. »Es funk­tio­niert!« Freu­de ver­dräng­te zu­neh­mend sei­ne Zwei­fel, und zum er­sten Mal seit dem Tod von Hen­ni vor sieben Jah­ren spür­te er so et­was wie ein Glücks­ge­fühl. Sein größ­ter Wunsch schien tat­säch­lich in Er­fül­lung zu ge­hen!

In die­sem Augen­blick fla­cker­te ein ro­tes Licht oben auf dem Ap­pa­rat.

»Strom …« Bern­hard war so er­grif­fen, als ob er sein Neu­ge­bo­re­nes erst­mals in den Ar­men wieg­te. Nun, ein we­nig war es ja auch so.

Sei­ne lin­ke Hand glitt ins Was­ser, vor lau­ter Auf­re­gung ver­gaß er, vor­her den Är­mel sei­nes Hem­des nach oben zu schie­ben, und tas­te­te sich un­ter die Ma­schi­ne. Ein neu­er Schwall von Be­geis­te­rung durch­ström­te ihn – er spürt den Sog. Viel stär­ker als er­war­tet!

»Ver­dammt«, schrie er plötz­lich auf, Was­ser spritz­te durchs hal­be Ba­de­zim­mer, als er die Hand aus der Wan­ne riss und auf sei­nen blu­ten­den Zei­ge­fin­ger blick­te. »Mist, ver­flix­ter!« Den­noch blieb er vor der Wan­ne knien, saug­te, schon wie­der ge­dan­ken­ver­lo­ren, das Blut weg und blick­te ver­träumt auf sein Werk. Hat­te ihn das Ding doch tat­säch­lich in den Fin­ger ge­bis­sen. Er grins­te breit bei dem Ge­dan­ken. Er war schon auf Ed­gars Ge­sicht ge­spannt. Mor­gen Abend im Ca­ram­bo­la­ge. So ei­ne Kraft, das hät­te er nie ver­mu­tet. Aber er hat­te ge­wusst, dass es funk­tio­nie­ren wür­de! Jetzt, so im Nach­hi­nein be­trach­tet. Lie­be­voll blick­te er auf sein Ge­rät, wäh­rend ihm vi­sio­nä­re Bil­der durch den Kopf gin­gen wie im Ki­no.

Als er ver­such­te, auf­zu­ste­hen, schoss Schmerz durch sein Knie. Kein Wun­der nach ei­ner Stun­de na­he­zu be­we­gungs­lo­sen Kniens auf den Flie­sen. Er schüt­tel­te den Kopf, ver­zerr­te das Ge­sicht, grins­te aber trotz­dem. Hat­te er doch tat­säch­lich den har­ten Boden aus­ge­blen­det! Schwer stütz­te er sich auf den Wan­nen­rand, rutsch­te ab, prall­te auf den Ap­pa­rat, ver­schob ihn ein Stück, und ein Schmerz im Hand­bal­len schoss sei­nen Un­ter­arm hoch, der den im Knie mit Leich­tig­keit über­bot. Schnau­bend und mit zu­sam­men­ge­press­ten Lip­pen zog er den Ho­cker un­ter dem Wasch­be­cken her­vor und ließ sich da­rauf fal­len. Ab­wech­selnd saug­te er am Zei­ge­fin­ger, kne­te­te die Hand und mas­sier­te sein Knie.

Aber alles das war un­wich­tig. Von Be­lang war ein­zig und allein sei­ne Er­fin­dung, und wie­der flüs­ter­te er: »Es funk­tio­niert. Hat man Tö­ne, es funk­tio­niert. Na ja, eigent­lich konn­te es ja un­mög­lich an­ders sein. Und trotz­dem …« Er beug­te sich vor, stopp­te den Was­ser­zu­lauf, at­me­te tief aus und rutsch­te mit dem Ho­cker ruck­wei­se zurück, bis er ein her­un­ter­hän­gen­des Hand­tuch zwi­schen sich und der Wand spür­te. Wie­der und wie­der kreis­te der Ge­dan­ke durch sei­nen Kopf: Er war am Ziel. Er hat­te et­was wirk­lich Wich­ti­ges ge­schaf­fen. End­lich! Das hät­te sein Vater mit­be­kom­men sol­len. Er hät­te mit Si­cher­heit sei­ne ab­schät­zi­ge Mei­nung von ihm re­vi­die­ren müs­sen! ›Bub, du musst was Sinn­vol­les tun!‹, hat­te er immer ge­sagt, als er be­merkt hat­te, wie sich Bern­hard zur Kunst und Ar­chi­tek­tur hin­ge­zo­gen fühl­te. ›Ver­giss die­se Träu­me, das schaffst du oh­ne­hin nie. Du stu­dierst Bau­in­ge­ni­eur­we­sen, klar? Du bist viel zu un­be­gabt für et­was wirk­lich Gro­ßes.‹ Zwei­und­vier­zig Jah­re hat­ten ins Land zie­hen müs­sen, bis er wuss­te, dass das nicht stimm­te. Viel zu lan­ge. Nun ja, dass es de­fi­ni­tiv nicht stimm­te, wür­de er erst dann er­fah­ren, wenn sein Mo­dell auch im Gro­ßen ein­ge­setzt wur­de.

Mit ei­nem trot­zi­gen Kopf­schwung warf er sei­ne Haa­re aus der Stirn und die Ge­dan­ken an sei­ne Kind­heit zurück in die Ver­gan­gen­heit, wo sie hin­ge­hör­ten. Jetzt galt es, sich mit der Zu­kunft zu be­schäf­ti­gen. Er wür­de die Sa­che in gro­ßem Stil auf­zie­hen. In Frank­reich wä­ren die Be­din­gun­gen op­ti­mal. Oder Spa­nien? Por­tu­gal?

 

Kei­ne hal­be Stun­de spä­ter, zehn Mi­nu­ten vor Mit­ter­nacht, lehn­te sich Bern­hard auf die Brüs­tung sei­nes Bal­kons. Sei­ne Knie poch­ten, aber sein Herz schlug wild und be­geis­tert. Es war ei­ner je­ner Aben­de, die sich nicht ent­schei­den konn­ten, ob sie noch zum Som­mer oder schon zum Herbst hal­ten woll­ten. Er spür­te immer wie­der ag­gres­si­ve, kal­te Luft­zü­ge in der sonst noch run­den Wär­me der Herbst­nacht. Ein paar Wol­ken spiel­ten mit dem Mond. Manch­mal ge­wan­nen sie, dann wie­der er. So wie das Schi­cksal mit ihm ge­spielt hat­te. Immer ei­nen Schritt vor und zwei zurück, so war es ihm vor­ge­kom­men. Ei­nen klei­nen Er­folg trotz­te er ihm ab und dann warf es ihn spie­lend wie­der zurück auf Start. Und zwar, oh­ne vier­tausend Mark neh­men zu dür­fen. Oft hat­te er bis weit nach Mit­ter­nacht an sei­nen Er­fin­dun­gen ge­ses­sen und den Groß­teil sei­nes gu­ten Ge­halts und der Über­stun­den­ver­gü­tung in die­se Pro­jek­te in­ves­tiert.

Vier Stock­wer­ke tie­fer war zu­erst das Klapp­ern von Schu­hen ei­ner Frau zu hö­ren, be­vor ein Paar drü­ben bei der Kreu­zung in den Licht­kreis der Stra­ßen­la­ter­ne trat. Sie schlen­der­ten Hand in Hand über den Bür­gers­teig. Beim Ein­gang des Ne­ben­hau­ses blie­ben sie ste­hen. Die Frau war aus sei­nem Blick­feld ver­schwun­den, von ihm sah er ge­ra­de noch den Rü­cken. Nun ver­schwand auch der lang­sam. Jetzt küss­ten sie sich ge­wiss. Ein Wagen blieb drü­ben bei der Stopp­tafel ste­hen und fuhr gleich da­rauf wie­der an. Ließ die Kup­plung viel zu lan­ge schlei­fen.

Bern­hard seufzte. Sieben Jah­re … ei­ne lan­ge Zeit. Und doch war mit sei­nem Be­ruf, aber vor al­lem der Be­schäf­ti­gung mit sei­ner ge­nia­len Idee, die Zeit wie im Flug ver­gan­gen. Die Ge­dan­ken da­ran wirk­ten auf ihn wie ein Ker­zen­licht in ei­nem dunk­len Kel­ler. Die in­ne­re Dun­kel­heit zog sich wi­der­wil­lig zurück und er spür­te, wie ihn ei­ne neue Kraft auf­rich­te­te, als er an den heu­ti­gen Er­folg dach­te. Jetzt, da ihm der Durch­bruch ge­lun­gen war, wür­de sich auch sei­ne pri­va­te Si­tua­tion zum Gu­ten wen­den. Er war zu­ver­sicht­lich. Die Rol­len waren nun ein­mal so ver­teilt, dass bei Män­nern zähl­te, was sie leis­te­ten. In­direkt hat­te ihn sein Vater an­ge­spornt mit sei­nem stän­di­gen ›du bringst eh nichts auf die Rei­he‹. Hen­ni hat­te sich zwar nie be­schwert, ob­wohl sie an sei­ner Sei­te ein et­was küm­mer­li­ches Le­ben ge­führt hat­te. Er woll­te teil­ha­ben an dem immer noch ge­wal­ti­gen Auf­schwung, jetzt, sieb­zehn Jah­re nach Krieg­sen­de. Und er hat­te das Zeug da­zu. Das konn­te man ja an dem Ding se­hen, das in der Ba­de­wan­ne stand. Un­glau­blich! Das war er ge­we­sen! Grin­send schüt­tel­te er den Kopf.

Er dreh­te sich um, durch­quer­te das Wohn­zim­mer und trat kurz da­rauf mit Zi­ga­ret­te und Feu­er­zeug wie­der hin­aus. Rasch dreh­te er sich zurück zur Bal­kon­tür, neig­te sich vor, hielt die hoh­len Hän­de um das Feu­er­zeug. Trotz des Schut­zes fla­cker­te die Flam­me, als woll­te sie fort­hüp­fen, un­ge­dul­dig und un­ge­hor­sam. Doch sie hat­te den Tabak mit ih­rer Glut in­fi­ziert, die sich gleich da­rauf durch die Krü­mel weiter­fraß. Zu­erst be­gehr­te sie ge­gen den Luft­zug auf, den sein Sau­gen aus­lös­te, gab auf, klet­ter­te zu­erst schräg, dann gleich­mä­ßig weiter um das gan­ze Rund, von dem ein lei­ser Rauch­fa­den un­stet fort­zog. Schon in­te­res­sant: Man stieß ir­gend­et­was an und dann pflanz­te es sich fort. Druck­los ent­ließ Bern­hard die ne­be­li­ge Luft aus sei­nen Lun­gen, be­ob­ach­te­te, wie sie der Wind im Vor­bei­flie­gen mit­nahm und bei­de dün­ner und fer­ner wur­den. Die Natur, un­glau­blich, alles war vor­han­den, nur wir waren zu blöd, es zu ver­ste­hen. Er war aber nicht zu blöd, wür­de ihr noch und noch Ge­heim­nis­se ent­lo­cken. Man wür­de noch stau­nen über ihn. Lang­sam be­ru­hig­te sich sein Herz­schlag. Hof­fent­lich konn­te er schla­fen.

 

Mit Zei­ge­fin­ger und Dau­men schnips­te er die Kip­pe auf die Stra­ße hin­un­ter, at­me­te ein­mal tief ein- und aus, dann ging er hin­ein, und schloss die Bal­kon­tür. Er stieß ein un­wil­li­ges Mur­ren aus, als ihm der He­bel der Tür aus der Hand glitt, sie schwer auf ih­re Füh­rungs­schie­ne pol­ter­te und der Griff hoch­schnalz­te. Das hat­te man si­cher die gan­ze Stra­ße ent­lang ge­hört. Noch mehr Pro­ble­me mit den an­de­ren Mietern brauch­te er bei­lei­be nicht. Immer wie­der hat­ten sei­ne hand­werk­li­chen Ar­bei­ten zu Kon­flik­ten ge­führt: Zu laut ge­häm­mert, zu lan­ge ge­bohrt. Viel­leicht hät­te er das An­ge­bot sei­nes Chefs an­neh­men sol­len, in ei­ner Ecke der La­ger­hal­le zu ar­bei­ten. Aber er hat­te lie­ber alles hier zu Hau­se bei sich ge­habt, weil er so sei­ne Zeit am be­sten nut­zen konn­te.

Ge­ra­de woll­te er sich im Bett in die Waa­ge­rech­te sin­ken las­sen, als er brum­mend wie­der auf­stand und das Tele­fon aus dem Wohn­zim­mer hol­te. Nachts hat­te er es ger­ne ne­ben dem Bett ste­hen. Er hat­te kei­ne Lust, schlaf­trun­ken durch die hal­be Woh­nung zu tor­keln, wenn ihn je­mand an­rief. Und das kam vor. Ent­we­der sein Chef, der wie­der ei­nen sei­ner Ge­dan­ken los­wer­den muss­te oder ei­ner der Ar­bei­ter. Oder das Kran­ken­haus, in dem zur­zeit sein Vater lag. Er war mit Vier­und­acht­zig beim Pflü­cken der Pflau­men sei­nes ein­zi­gen Baums im Gar­ten da­heim von der Lei­ter ge­stürzt und la­bo­rier­te nun nebst ei­nem Ober­schen­kel­hals­bruch an ei­ner Lun­gen­ent­zün­dung. Und das sech­shun­dert Kilo­me­ter weiter süd­lich. Der Stur­kopf. Bern­hard knall­te das Tele­fon auf den Nacht­tisch ne­ben den We­cker, ließ sich nach links ins Bett fal­len und zog die De­cke bis un­ter die Na­se. Die Ge­dan­ken lie­ßen ihm kei­ne Ru­he. Ba­de­wan­ne. Frank­reich. Viel­leicht Spa­nien?