Nur sieben Worte – Meisterung – Leseprobe

Teil II – Meisterung

Du hast nur ei­nen wah­ren Freund.
Es ist der Weg, den dir dein Herz zu­raunt.

Danach

Ab­so­lu­te Stil­le herrsch­te in Bern­hard. Bis auf ein dump­fes, gleich­mä­ßig pul­sie­ren­des ufh … ufh … ufh in sei­nen Oh­ren war er taub. Das wil­de Trei­ben, das nach dem alle läh­men­den Schock nach Schuss und Hand­ge­men­ge auf dem Bahns­teig auf­brand­ete, nahm er nur als lei­ses, wat­ti­ges Nu­scheln wahr, so, als hät­te er Ohrs­töp­sel. Sanft leg­te er sei­ne Hand an ih­re Wan­ge, wo­rauf ihr Kopf sich ihm zu­dreh­te. Sei­ne Fin­ger zit­ter­ten. Ih­re Augen blick­ten an sei­nem Kopf vor­bei. Haar­scharf vor­bei. Er dreh­te ih­ren Kopf ein klei­nes Stück weiter und nun ging ihr Blick durch ihn hin­durch. Wa­rum sag­te sie nichts?

»Hey, du«, sag­te er weich. Aber ihr Kopf lag stumm in sei­ner Hand. »Nein«, dach­te er, »nein …« So saß er lan­ge. Da war kei­ne Zeit.

Er spür­te es. Zu­erst run­zel­te er die Brau­en und hör­te in sich hin­ein. Da war es wie­der. Es kroch kalt sei­nen Rü­cken hoch. Er nahm die Hand von ih­rem Ge­sicht. Ihr Kopf roll­te wie der ei­ner Pup­pe zur Sei­te und ihr Blick ver­lor sich ir­gend­wo in den Stre­ben der Dach­kons­truk­tion des Bahns­teigs. Dann kehr­ten die Ge­räu­sche zurück. Ganz zag­haft, als trau­ten sie sich nicht, dann zü­gi­ger und schließ­lich mit der Ve­he­menz des Sprungs ei­ner Raub­kat­ze bra­chen sie über ihn her­ein. Das Don­nern der Rä­der des Zugs ne­ben sich, das Quiet­schen der Brem­sen, das Zi­schen von Ven­ti­len, Fau­chen von Press­luft, dump­fe Schlä­ge, als fie­len Sä­cke aus ei­nem Fens­ter auf den Bür­gers­teig, Knir­schen, ver­ein­zel­te Ru­fe – er konn­te sie nicht ver­ste­hen. Vor ihm die mah­lenden Rä­der der Wag­gons, aus­rol­lend, das Pfei­fen der Lo­ko­mo­ti­ve, et­was wur­de über Be­ton ge­zo­gen, glas­klar nahm er je­des Ge­räusch wahr, als kä­men sie alle der Rei­he nach zu ihm, um ge­hört zu wer­den, um Ver­säum­tes wett­zu­ma­chen. Dann senk­te er den Blick wie­der hin­un­ter und dann, erst dann kroch wie ein Heer kal­ter Qual­len die Er­kennt­nis in ihm hoch, was ge­sche­hen war.

Er riss den Kopf he­rum. Drü­ben stand Ptak, schwer at­mend, sein Schnurr­bart stand wirr in alle Rich­tun­gen. Am Boden lagen die bei­den Män­ner. Ein Mann in Uni­form stürz­te aus dem Ge­bäu­de, sich im Lau­fen sei­ne Müt­ze auf­set­zend. Die Türen des Zugs wur­den auf­ge­stoßen und ein paar Fahr­gäs­te stie­gen aus. Ein Mann in ei­nem beigen Per­lon­man­tel mit Ak­ten­ta­sche, ei­ne Mutter mit ei­nem viel­leicht zehn­jäh­ri­gen Jun­gen, ei­ne al­te Frau setz­te vor­sich­tig Fuß für Fuß auf die Eisen­stufen, hielt sich am Ge­län­der der Wag­gon­tür. Dann sank sein Blick zurück in sei­nen Schoß. Als er das Blut un­ter sei­nem Fuß her­vor­rin­nen sah, durch­lief ihn ein Zit­tern.

Er riss den Kopf hoch. »He! Hee!«, schrie er. »Ei­nen Kran­ken­wagen! Schnell! Hal­lo! Wa­rum tut nie­mand et­was?« Ge­hetzt sah er sich um, Ptak ging lang­sam auf ihn zu. Er sah, wie ein wei­te­rer Bahn­be­dienst­eter in die Hal­le stürz­te, so hef­tig, dass die Tür in­nen an­schlug. Ptak leg­te ihm sei­ne Hand auf die Schul­ter.

Bern­hard sah zu ihm auf, sah in sei­ne Augen, sah Be­stür­zung, die er­ste Emo­tion, seitdem er ihn ken­nen­ge­lernt hat­te. »So tun Sie doch was«, rief er. »Bit­te … bit­te, tun Sie was …« Sei­ne Stim­me wur­de zu ei­nem Flüs­tern und Ptaks ge­wal­ti­ger Schnurr­bart und sein ern­stes Ge­sicht ver­schwam­men. Er beug­te sich vor­nü­ber, nahm Mar­got in den Arm, tas­te­te sie ab, ih­ren Arm, ih­ren Hals, ih­re Haa­re, ihr Ge­sicht. Ir­gend­et­was fehl­te. Was war das? Was war es nur. Ver­zwei­felt wühl­te er in sei­nen Er­in­ne­run­gen. Was nur …?

Bis es ihm ein­fiel.

Es war ihr Duft. Sie hat­te ihn mit­ge­nom­men.

Die­se Er­kennt­nis traf ihn wie ein Faust­schlag und sie war es, die all sei­ne auf­schäu­men­de Ver­zweif­lung aus ihm hin­aus­bre­chen ließ. Un­scharf Ptaks Ge­sicht, ver­geb­lich zwin­ker­te er den Trä­nens­trom weg und schlu­chzte: »So … tun Sie … doch … et­was.«

Ir­gend­wo nahm er Si­re­nen wahr, Ge­trap­pel, sanft, doch be­stimmt schob sich ein Arm un­ter sei­nen und woll­te ihn auf­rich­ten. Er klam­mer­te sich an Mar­got. Doch der Druck der Hand nahm zu, zog ihn hoch. Gleich­zei­tig griff je­mand an­de­res un­ter Mar­got. Plötz­lich stand ei­ne Tra­ge da. Nein, er woll­te nicht von ihr fort. Aber mit sanf­ter Be­stimm­theit wur­den sie ge­trennt. Mar­got lag auf der Bah­re. Ei­ne Blut­spur von ihr zu ihm.

Die letz­te Ver­bin­dung zwi­schen ih­nen.

Der Mann, der ihm auf­ge­hol­fen hat­te, nahm sei­nen Arm von ihm. Schwan­kend stand er da, blick­te hin­un­ter, sah zu, wie je­mand ein wei­ßes Tuch über sie brei­te­te, und als es über ih­ren Kopf ge­zo­gen wur­de, konn­te er sich nicht mehr hal­ten. Er schrie! Wild blick­te er um sich, schrie, wo die Schwei­ne­hun­de wä­ren, er wür­de sie um­brin­gen, die­se ver­damm­ten Schwei­ne. Sei­ne Stim­me über­schlug sich. Hän­de hiel­ten ihn fest. Mar­got wur­de hin­aus­ge­tra­gen. Die bei­den am Boden lie­gen­den Män­ner wur­den mit Tra­gen ab­trans­por­tiert.

»Es tut mir leid«, sag­te Ptak in sein Ohr, »mein aller­größ­tes Bei­leid, Herr Fer­rät­ti … kom­män Sie …«

Ptak führ­te ihn hin­aus, stütz­te ihn wie ei­nen Be­trun­ke­nen, half ihm beim Ein­stei­gen in den Wagen, um­run­de­te den As­ton Mar­tin, stieg ein, star­te­te und fuhr los.

Sie hiel­ten bei Ptaks Haus, gin­gen hin­auf in des­sen Woh­nung.

Dann sa­ßen sie am sel­ben Platz in den­sel­ben Ses­seln, als Bern­hard hier ge­we­sen war, um Ptak zu en­ga­gie­ren.

 

Down Under

Bern­hards Kopf war auf sei­ne Brust ge­sun­ken, das ein­tö­ni­ge Rau­schen der Lüf­tung und der Mo­to­ren hat­ten ihn er­mü­det. Sie waren von Sin­ga­pur aus vor et­wa zwei Stun­den zur letz­ten Etap­pe ge­star­tet. Ei­ne Zwi­schen­lan­dung in Dar­win, dann wür­den sie Cairn er­rei­chen. Weit weg hat­te er ge­wollt und weiter als Aus­tra­lien ging nicht.

Nach Mar­gots Be­er­di­gung hat­te er ver­sucht, in sei­ne Ar­beit zurück­zu­fin­den, aber er war ge­schei­tert. Alles im Büro er­in­ner­te ihn an sie, alles im Ort, nein, es war der Ort selbst. Das trost­lo­se Wet­ter hat­te sei­ne Stim­mung ins Un­er­träg­li­che ge­stei­gert. Ei­nes Tages be­schloss er, alle Brü­cken hin­ter sich ab­zu­bre­chen. Lan­ge ge­nug war sein Le­ben in ei­nem mehr oder we­ni­ger er­folg­rei­chen Ei­ner­lei ver­lau­fen. Mit Mar­got zu­sam­men und viel­leicht Kin­dern hät­te es ei­nen Reiz ge­habt, so fort­zu­fah­ren, aber nicht so. Neue Ufer, ei­ne neue Her­aus­for­de­rung, et­was Gro­ßes schaf­fen, für sich und an­de­re. In Aus­tra­lien be­trieb man Stu­dien zur Ge­zeiten­ener­gie und dort woll­te er be­gin­nen.

Stück für Stück de­mon­tier­te er sein bis­he­ri­ges Le­ben. Phy­sisch be­gann er bei sei­ner Tur­bi­nen­kons­truk­tion in der Ba­de­wan­ne, trug die teu­ren Tei­le zum Schrott­händ­ler, ei­nen Käu­fer zu su­chen hat­te er kein In­te­res­se. Fi­nanz­iell war er so gut ab­ge­si­chert, dass er gu­te zehn Jah­re sein Aus­kom­men hät­te. Dann stürz­te er sich in die Ar­beit, prak­tisch Tag und Nacht, Weih­nach­ten und Neu­jahr schlief er nur we­ni­ge Stun­den täg­lich. Er woll­te schnell­stmög­lich fer­tig wer­den, um sei­ne übers Jahr lau­fenden Bau­stel­len mit mög­lichst we­nig Alt­las­ten weiter­ge­ben zu kön­nen. Zwei sei­ner Tech­ni­ker wä­ren zur Aus­wahl ge­stan­den, sei­ne Nach­fol­ge im Be­trieb an­zu­tre­ten. Als er er­fuhr, dass John­ny Ham­mes mit Gret­chen zu­sam­men war, Mar­gots Freun­din, gab er ihm den Vor­zug. Le­dig­lich mit Ed­gar traf er sich hie und da abends im Ca­ram­bo­la­ge auf ein Bier. Es tat ihm leid, sei­nen Freund zu ver­las­sen. Ob­gleich die­ser ihn zu über­re­den ver­such­te, hier­zu­blei­ben, ihm ver­si­cher­te, es wür­de bes­ser wer­den und sei­ne Trau­er ver­ge­hen, hielt er an sei­nem Vor­satz fest.

Am 26. Ja­nu­ar war es dann so weit ge­we­sen. Er hat­te ei­ne klei­ne Ab­schieds­fei­er aus­ge­rich­tet, nach der er Gret­chen ei­ne an­sehn­li­che Sum­me da­für gab, dass sie sich um Mar­gots Grab küm­mer­te. Alles war ver­kauft. Sei­ne Giu­lia hat­te er auf der zer­kratz­ten Sei­te neu la­ckie­ren las­sen. Dann über­ließ er sie Ed­gar zu ei­nem Freund­schafts­preis.

Ein Ta­xi hat­te ihn schließ­lich zum Flug­hafen ge­fah­ren und bald da­rauf war er nach Süd­os­ten in den Himmel ge­stie­gen, sein ge­sam­tes Hab und Gut in ei­nem gro­ßen Rei­se­kof­fer.
Er er­wach­te, weil sein Sitz­nach­bar ihm auf den Arm klopf­te. Ver­mut­lich für län­ge­re Zeit die letz­te deut­sche Stim­me, ein Ethno­lo­ge aus Ber­lin. »Se­hen Sie? Das Meer, dort drü­ben muss das Bar­rie­re-Riff sein. Und se­hen Sie den Re­gen­wald dort? Und die­ses un­glau­blich wei­te Gras­land. Ich lie­be Down Un­der.«

Bald da­rauf schüt­tel­te ihn ein un­sanf­tes Rum­peln durch. Die Lan­dung war kei­ne Meis­ter­leis­tung des Pilo­ten ge­we­sen. Da­bei war die aus­tra­li­sche Flug­ge­sell­schaft be­kannt für ih­re Qua­li­tät. Er ver­ab­schie­de­te sich von dem Mann, des­sen Na­men er ver­ges­sen hat­te. Er wür­de ihn oh­ne­hin nie wie­der se­hen. Er blieb sit­zen, war­te­te, dass ein Teil der Pass­agie­re das Flug­zeug ver­ließ. Als der Pass­agiers­trom lich­ter wur­de, stand er auf, hob die klei­ne Ta­sche aus der Ge­pä­cka­bla­ge über sich und fä­del­te sich in die letz­ten war­ten­den Pass­agie­re ein. Lang­sam kroch die Schlan­ge nach vor­ne. Durch die ge­öff­ne­te Tür der Doug­las C-54 Sky­mas­ter der Trans Aus­tra­lien Air­li­nes warf ihm die Son­ne ei­nen fast ag­gres­si­ven Licht­strahl ent­ge­gen. Auf dem obe­ren Po­dest der Fahr­gast­trep­pe dräng­te er sich dicht ans Ge­län­der, um die an­de­ren Pass­agie­re vor­bei­zu­las­sen. Die glän­zen­de Me­tall­haut des Flug­zeugs ver­stärk­te die un­wirk­li­che Stim­mung. War er nun wirk­lich hier? War das wahr? Die Hit­ze ließ ihn sei­ne Ja­cke aus­zie­hen, hier war ge­ra­de die hei­ßes­te Jah­res­zeit und die ga­ran­tiert drei­ßig Grad trie­ben ihm den Schweiß auf die Stirn.
Sein neu­es Le­ben. Was ihn wohl er­war­te­te?

Er trat zur Sei­te, ließ sich mit dem Strom der an­de­ren fortspü­len. Zoll­for­mal­itä­ten, Über­nah­me sei­nes Ge­päcks. Wäh­rend der Flie­ger für ihn noch wie ei­ne Na­bel­schnur war, so war hier, vor dem Flug­hafen­ge­bäu­de, selbst sie zer­schnit­ten. Er stieg in ein Ta­xi und ließ sich in ein be­lie­bi­ges Hotel fah­ren.

 

Der Bal­kon, auf dem Bern­hard saß, lag ost­sei­tig, so­mit be­reits im Schat­ten. Er hat­te es sich auf ei­nem Korb­stuhl be­quem ge­macht, ein Bier auf ei­nem aus­ge­bli­che­nen Plas­tik­tisch ne­ben sich. Un­ter ihm roll­te kar­ger Ver­kehr. Weiter drü­ben der blaue Tep­pich des Pa­zi­fiks, von dem der Ethno­lo­ge aus dem Flug­zeug ge­meint hat­te, dort müs­se ir­gend­wo das be­rühmte Bar­rie­re-Riff lie­gen mit sei­ner tief­sten Meeres­schlucht, dem Ma­ria­neng­ra­ben.

Ihm war heiß, ein leich­ter Wind weh­te vom Meer her­über und es kam ihm so vor, als hät­te ihn das Flug­zeug auf ir­gend­ei­nem fer­nen Pla­ne­ten ab­ge­setzt. Aber ge­nau das hat­te er ja ge­wollt. Dass sich nun alles an­ders an­fühl­te, als er es sich ge­dacht hat­te, war ei­ne an­de­re Sa­che. Er rück­te den Stuhl nä­her zum Bal­kon und leg­te die Bei­ne auf das Ge­län­der. Außer­halb des Orts, so hat­te er aus dem Flug­zeug­fens­ter her­aus fest­ge­stellt, dehn­te sich Gras­land, und sanf­te, dicht be­wald­ete Hügel­ket­ten um­schlos­sen die Klein­stadt weit­läu­fig. Als sich Er­in­ne­run­gen in sein Ge­dächt­nis scho­ben, stand er auf und schlen­der­te ins Zim­mer. Er sah auf den ge­öff­ne­ten Kof­fer. Kei­ne Ah­nung, wie lan­ge er hier­blei­ben wür­de. Al­so räum­te er den In­halt in den Schrank. Dann nahm er sein Eng­lisch­buch aus der Rei­se­ta­sche und setz­te sich wie­der ins Freie.

So gut wie mög­lich hat­te Bern­hard in den letz­ten Wo­chen zwi­schen sei­nen hek­ti­schen Ab­schluss­ar­bei­ten sein Eng­lisch auf­ge­bes­sert, das er von der Ge­fan­gen­schaft her noch konn­te. Aber auf Schritt und Tritt hat­te er hier fests­tel­len müs­sen, wie dürf­tig es trotz al­lem war. Ob beim Zoll oder bei der Hotel­su­che oder im Hotel selbst. Es är­ger­te ihn, dass er sich da­durch wie be­hin­dert vor­kam.

Der Wind weh­te un­be­kann­te Vogel­stim­men an sein Ohr. Sie ka­men von den Bäu­men, die wahr­schein­lich Eu­ka­lyp­tus­bäu­me waren oder Aka­zien. So stand es je­den­falls in dem Rei­se­füh­rer. Er war neu­gie­rig, wann er erst­mals die­se na­se­rümp­fen­den Woll­knäu­el, die Koa­la­bä­ren, se­hen wür­de.

Nach ei­ner hal­ben Stun­de gab er auf, sei­ne Ge­dan­ken lie­ßen sich nicht so ein­fach ver­scheu­chen. Zu allen Tages- und Nacht­zeiten tauch­te vor sei­nem in­ne­ren Au­ge Mar­gots lee­rer Blick auf. Er schluck­te und zwang die Trä­nen, die sei­nen Hals her­auf­kro­chen, wie­der zurück. Er woll­te ei­ne Run­de spa­zie­ren ge­hen.

Schnell hat­te er den Stadt­kern hin­ter sich ge­las­sen und schritt an ein­stö­cki­gen Häus­ern vor­bei, zwi­schen de­nen Pal­men aus­sa­hen wie Staub­we­del, die im Boden steck­ten. In die­ser Stra­ße führ­ten bei sämt­li­chen Häus­ern Trep­pen in den er­sten Stock hin­auf, der of­fen­bar den eigent­li­chen Wohn­be­reich stell­te. Dann folg­ten klein­ere Bun­ga­lows. Zu ei­nem Haus bog ge­ra­de ein ro­ter ame­ri­ka­ni­scher Mittel­klas­se­wagen mit wei­ßem Dach ein. Ein Mäd­chen kam aus dem Haus, ging zu dem Brief­kas­ten, und ent­nahm der Ab­la­ge­flä­che auf der Rück­sei­te die dort war­ten­de Milch­fla­sche. Bern­hard lä­chel­te. Länd­li­cher ging es kaum. Of­fen­bar der Bru­der des Mäd­chens und de­ren Mutter ka­men aus dem Haus und be­grüß­ten den Fah­rer des Wagens. Die Fa­mi­lie schien wie­der ver­eint zu sein. Ge­ra­de als Bern­hard auf glei­cher Hö­he war, öff­ne­te der Fah­rer den Kof­fer­raum, fal­te­te ei­ne Fo­lie auf und Bern­hard konn­te ei­nen Blick auf un­zäh­li­ge, frisch ge­fan­ge­ne Kreb­se wer­fen. Konn­te man die hier ein­fach so fan­gen?

Ein paar Mäd­chen fuh­ren auf Fahr­rä­dern vor­bei, sie ka­men wohl aus der Schu­le.

Ei­ne Wei­le spä­ter ließ er auch die Bun­ga­lows hin­ter sich und wan­der­te durch ei­nen lich­ten Wald, und wie­der frag­te er sich, ob das nun Eu­ka­lyp­tus wä­re. Das war schließ­lich der Stoff von Hus­ten­bon­bons aus sei­ner Kind­heit. Weiter ging es dann un­ter Pal­men über sper­ri­ges Gras, viel grö­ber als da­heim. Nach ei­ner Wei­le tat sich zwi­schen den Pal­mens­täm­men und über den zurück­tre­ten­den Bü­schen die Wei­te auf, blau und noch­mals blau. Das dunk­le­re Blau des Meeres traf sich ir­gend­wo in ei­ner fei­nen Li­nie mit der hel­le­ren Flä­che des Him­mels.

Er setz­te sich auf ei­nen Stein.

Oft war er seit Mar­gots Tod das The­ma durch­ge­gan­gen: Nie wie­der wür­de er ei­ne Frau nä­her an sich her­an­las­sen. Sei­ne er­ste Frau war ge­stor­ben und nun die zwei­te, zu der er tie­fe Ge­füh­le ent­wi­ckelt hat­te – und das nach so kur­zer Zeit. Zwei­mal so end­gül­ti­ger Tren­nungs­schmerz – das reich­te. Es brach­te ein­fach nichts, sich auf die­se Wei­se aus­zu­lie­fern. Sich ab­hän­gig zu ma­chen von der Zu­ge­hö­rig­keit zu an­de­ren Men­schen. Was brauch­te er mehr als sich? Er stütz­te sein Kinn auf sei­ne Fäus­te, die er auf dem Knie über­ein­an­der­ge­setzt hat­te. Hier wür­de er ewig sit­zen kön­nen und das Meer be­ob­ach­ten. Oder an ei­nem an­de­ren Ort der Welt. Nur so wä­re er un­ab­hän­gig und müss­te sich kei­nem wei­te­ren Schmerz mehr aus­set­zen müs­sen. Es war doch auch all die Jah­re gut ge­gan­gen, be­vor er Mar­got ge­trof­fen hat­te. Sie hat­te ihn hin­aus­ka­ta­pul­tiert aus sei­nem Gleich­maß, sei­ner klei­nen, freu­dar­men, aber immer­hin hei­len Welt. Die hat­te ihr Gu­tes ge­habt. Wahr­schein­lich wä­re er nie frei­wil­lig aus dem Bau­ge­schäft aus­ge­stie­gen. Er war ein ge­ach­te­ter Mann in dem Ort ge­we­sen. Hie und da ei­ne klei­ne Af­fä­re, wenn ihm zu ein­sam ums Herz wur­de. Na ja, viel­leicht ehr­li­cher, wenn ihn der Drang nach Ver­ei­ni­gung da­zu trieb. Er lach­te kurz auf. Ja, ge­nau, des­halb hieß es ja Trieb. Viel­leicht wä­re er ein­mal Car­las Char­me er­le­gen, wer weiß. Sie war ein net­tes Mäd­chen. Sie roch immer so ap­pe­tit­lich und sie war un­ge­wöhn­lich hübsch. Nicht nur ein­mal hat­te er mit­be­kom­men, wie Lie­se­lot­te an­züg­li­che Be­mer­kun­gen zu Lot­har ge­macht hat­te, dass er ei­ne so hüb­sche Se­kre­tä­rin an­ge­stellt hat­te.

Dann dach­te er über die Eifer­sucht nach. Was war die für ei­ne selt­sa­me Sa­che. Wenn ein Mann mit ei­ner an­de­ren Frau ins Bett stieg, dann war das ei­ne Ka­ta­stro­phe. Wenn ein Mann sich aber mit ei­ner an­de­ren Frau bes­ser ver­stand, dann mach­te das nichts aus. Er er­in­ner­te sich noch an die Zeit mit Hen­ni. Hen­ni war ei­ne Frau ge­we­sen, die er als lieb be­zeich­ne­te. So rich­tig zum Hei­ra­ten und Kin­der­krie­gen. Sie wä­re si­cher ei­ne per­fek­te Mutter ge­we­sen und hät­te es aufs Treff­lich­ste ver­stan­den, die Fa­mi­lie zu­sam­men­zu­hal­ten. Aber mit ihr zu phi­lo­so­phie­ren, wie er es ge­le­gent­lich gern tat? Da­ran war nicht zu den­ken. Das in­te­res­sier­te sie ein­fach nicht. Be­gann er mit ir­gend­ei­nem The­ma, wo­her der Mensch kä­me, wo­hin er gin­ge oder der­glei­chen, so wur­de sie re­gel­mä­ßig mü­de. Sie sag­te es ihm nie direkt ins Ge­sicht, so war Hen­ni nicht. Sie woll­te nie je­man­den ver­let­zen. Sie kom­mu­ni­zier­te un­ter­schwel­lig. Auch auf sei­ne Be­mer­kun­gen zu die­sem Ver­hal­ten ging sie nie ein. Manch­mal hat­te ihn die­ses Nicht-Aus­spre­chen wahn­sin­nig ge­macht. Ir­gend­wann hat­te dann auch er auf­ge­hört über be­stimm­te Themen zu spre­chen. Als sie bei­sam­men waren, war ihm nie auf­ge­fal­len, was ihm alles fehl­te. Die Ta­ge hat­ten sich an­ein­an­der­ge­reiht wie ei­ne end­lo­se Per­len­ket­te. Je­der von ih­nen leb­te in sei­ner ei­ge­nen Welt vor sich hin und außer den Be­rüh­rungs­punk­ten, die ih­nen durch die äu­ße­ren Not­wen­dig­kei­ten auf­ge­zwun­gen wur­den, gab es kaum wel­che. Nun, so ganz stimm­te das nicht, denn die Ge­bor­gen­heit ei­ner im Ent­ste­hen be­grif­fe­nen Fa­mi­lie war schließ­lich kei­ne Not­wen­dig­keit. Oder doch?

Er zog ei­ne Zi­ga­ret­te aus der Pa­ckung und ver­such­te, sie in der hoh­len Hand zu ent­zün­den. Der auf­lan­di­ge Wind mach­te das zu ei­nem Ge­dulds­spiel. Das Feu­er war an ei­ner Sei­te auf­ge­sprun­gen, mit den näch­sten Zü­gen fraß sich die Glut rund­he­rum, ver­teil­te sich gleich­mä­ßig. Er schüt­tel­te das Feu­er­zeug ne­ben sei­nem Ohr. Bei Ge­le­gen­heit müss­te er für Ben­zin­nach­schub sor­gen. Bis­her war ihm gar nicht auf­ge­fal­len, dass Salz roch. Oder war es in Wirk­lich­keit ei­ne Pri­se aus Al­gen und ver­mo­dern­den Pflan­zen, die das Meer ge­pö­kelt an sei­nen Strand ge­spült hat­te? Kreis­chend kreis­ten schwar­ze Vögel über ihm, ka­men ihm da­bei zu­wei­len so na­he, dass er glaub­te, er kön­ne sie be­rüh­ren, streck­te er sei­ne Hand nach ih­nen aus.

Ja, was woll­te er eigent­lich, was er­war­te­te er sich vom Le­ben? Hat­te er sich die­se Fra­ge je­mals ge­stellt? Oder hat­te er sich ein­fach da­hin­trei­ben las­sen wie ein Stück Holz in ei­nem Bach? War sein Le­ben nicht die­sem Ge­trieb­en­wer­den bis­her sehr ähn­lich ge­we­sen? Warf man ein Stück­chen Holz in ei­nen Bach, dann trieb es ei­ne Wei­le mun­ter schau­kelnd auf den Wel­len, wipp­te froh auf und ab. Dann waren zwei Stei­ne im Weg und es hing fest. Zwar wipp­te es mit dem Was­ser, das stän­dig in Be­we­gung war, aber es ver­harr­te an der­sel­ben Stel­le. Bis ein Re­gen kam. Der gab dem Bach Kraft, er plus­ter­te sich auf und hob das Stück Holz ein­fach über die bei­den Stei­ne, die es fest­hiel­ten. Da­mit war es dann wie­der flott­ge­kom­men und ritt weiter auf den Wel­len. Dies­mal eif­ri­ger, ja ei­lig, als hät­te es et­was Ver­säum­tes auf­zu­ho­len. Er stieß die Luft aus und press­te die Lip­pen kurz zu­sam­men. Wie das Le­ben. Nein: wie sein Le­ben. Nein, doch: Wie das Le­ben. Gab es hin­ter all den Ge­schich­ten, von de­nen je­de ei­ne eige­ne, sehr per­sön­li­che war, auch et­was, das für alle gleich war? So­zu­sa­gen ei­ne Art Re­gel­werk, nach dem man sich rich­ten konn­te? Et­was, wo man nach­le­sen konn­te, was wich­tig war?

Er schnipp­te die Zi­ga­ret­te weit weg in den Sand. Gern ver­such­te er, die Kip­pen so weit wie mög­lich weg­zu­schnip­pen. Spann­te sei­nen Zei­ge­fin­ger an, bis die Seh­nen straff waren wie die ei­nes Bogens, ver­such­te sich im op­ti­ma­len 45-Grad-Win­kel, um die größ­te Ent­fer­nung zu er­rei­chen. Dies­mal nahm der Wind das Zel­lu­lo­se­röll­chen mit sich und er­freu­te Bern­hard mit ei­ner neu­en Re­kord­wei­te. Ei­ner der schwar­zen Vögel stieß he­rab und pick­te da­nach. Nicht!, dach­te er. Aber Vögel sind nicht dumm. Er er­kann­te die Täu­schung, wand­te den Kopf ein paar Mal ruck­ar­tig nach links und rechts und hob wie­der ab. Ob er auf ihn sau­er war? Dach­ten Vögel über­haupt? Hat­ten sie we­nigs­tens Ge­füh­le? So vieles woll­te er ger­ne wis­sen. Und da­rüber woll­te er mit je­man­dem spre­chen. Mar­got …

Schei­ße.

Er stand auf. Der Strand schien end­los. End­lo­sig­keit war hier über­haupt das The­ma. Die See. Ir­gend­wo ent­zog sie sich dem Zu­griff sei­ner Augen, ver­schwand ein­fach so, ver­krü­mel­te sich hin­ter dem, was man Ho­ri­zont nann­te. Das Was­ser ging in Li­ni­en ins Land über. Die vom Meer kom­men­den Wel­len wan­der­ten un­abläs­sig her, auf ih­nen rit­ten wei­ße Schaum­krön­chen und mach­ten rau­schend auf sich auf­merk­sam. Dann die fei­ne­ren sich be­we­gen­den Li­ni­en, in de­nen das Was­ser schon be­schei­de­ner ge­wor­den war, er­kannt hat­te, dass sich das Land nicht mit Ge­brüll er­obern ließ. Lei­se mur­melnd be­gab es sich in ih­nen wie­der zurück zu Sei­nes­glei­chen. Viel­leicht grins­ten die­se schau­mum­ran­de­ten Was­ser­zun­gen über ih­re vor­pre­schen­den Kol­le­gin­nen, weil die nicht wuss­ten, dass es sinn­los war? Ihr wer­det es gleich er­le­ben? Wie ver­san­de­te Wel­len­aus­läu­fer zeich­ne­ten die näch­sten, schon sta­ti­schen Li­ni­en Ge­schich­te der letz­ten Mi­nu­ten und Stun­den. An ih­ren Rän­dern Äst­chen, Früch­te, Mu­scheln. Die Ko­kos­nüs­se lagen weiter oben, bil­de­ten die Haupt­li­nie. Man­che waren grün, an­de­re be­reits braun, man­che an­ge­bis­sen und wie­der an­de­re wan­kel­mü­tig: Halb braun, halb grün. Ab und zu An­zeichen von Zi­vi­li­sa­tion da­zwi­schen: ei­ne ro­te Ket­chup-Fla­sche, ei­ne Plas­tik­tü­te.

Der Wind trieb sein Haar auf die Sei­te, er spür­te den Wi­ders­tand in den Haar­wur­zeln. Roch Salz und Tang. Und ob­wohl er erst seit kur­zem hier war, kam es ihm so vor, als wä­re er schon immer hier ge­we­sen, nur wür­de es ihm erst jetzt be­wusst. Ach, Mar­got …

Mor­gen woll­te er Kon­takt auf­neh­men mit dem In­ge­ni­eur, der die For­schun­gen vor­an­trieb. Wie es wohl mit der Ver­stän­di­gung klap­pen wür­de?

Er wand­te sei­ne Schrit­te wie­der land­ein­wärts.

 

Lotte

Bern­hard lern­te Lot­te in dem Laden ken­nen, in dem er ein­kauf­te. Im Schau­fens­ter lag über die gan­ze Brei­te ei­ne Pa­ra­de Ana­nas, ei­ne ne­ben der an­de­ren sa­ßen sie be­hä­big hin­ter der Glas­schei­be und streck­ten ih­re sta­che­li­ge Kro­ne nach oben. Wie gro­ße Per­len, dach­te er, die sag­ten: Greif mich bloß nicht an! Iss mich von mir aus, aber greif mich nicht an. Er hat­te schmun­zeln müs­sen und war hin­ein­ge­gan­gen, denn er lieb­te Ana­nas. Und nun soll­te er die Mög­lich­keit ha­ben, ei­ne ech­te, fri­sche zu er­ste­hen. Er war neu­gie­rig, wie sie sich von den kon­ser­vier­ten, die er kann­te, un­ter­schie­den. Er hat­te sie zu Hau­se in Deutsch­land gut und ger­ne do­sen­wei­se ver­speist. Im Ge­schäft war ihm dann das eng­li­sche Wort für Ana­nas nicht ein­ge­fal­len. In der Hoff­nung, dass sie auf Eng­lisch gleich hie­ße – exo­tisch ge­nug fand er den Na­men ›Ana­nas‹ ja, dass es hät­te sein kön­nen – hat­te er da­nach ge­fragt.

Die Frau hin­ter der The­ke, allein schon durch ih­re ge­well­te ro­te Mäh­ne nicht zu über­se­hen, hat­te ge­lä­chelt. »You me­an pi­ne­ap­ple?«

Er hat­te sich er­tappt übers Kinn gest­ri­chen und ge­nickt.

»Wir kön­nen aber auch Deutsch mit­ein­an­der re­den«, mein­te sie und zwin­ker­te ihm zu. Was für ei­ne fa­mo­se Fü­gung! Nach knapp zwei Wo­chen wie­der ein deut­sches Wort zu hö­ren!

»Wie wun­der­bar, ein Stück­chen Heimat!«, rief er be­geis­tert aus.

Sie lä­chel­te und ver­si­cher­te, es wä­re ge­gen­sei­tig.

Nach ih­rem Dienst­schluss sa­ßen sie im Kaffee ne­ben­an und plau­der­ten wild drauf­los. Bern­hard er­fuhr, dass sie nach Aus­tra­lien ge­kom­men war, um ih­ren al­ten Vater zu pfle­gen. Ihr Mann konn­te aus be­ruf­li­chen Grün­den nicht mit­kom­men und ihr war es ein will­kom­me­ner Grund ge­we­sen, der an­ge­spann­ten Be­zie­hung zu ent­kom­men. Sie war be­reits ein Jahr hier. Eng­lisch konn­te sie des­halb gut, weil ih­re Mutter Schot­tin war. Als er das er­fuhr, war ihm klar, wo­her die­ses leuch­ten­dro­te Haar und die nied­li­chen Som­mer­spros­sen stamm­ten. Ih­rem Vater war es ganz über­ra­schend schnell bes­ser ge­gan­gen, nach­dem sie hier war. Das muss­te sie ja nicht un­be­dingt nach Hau­se mel­den. Ihr ge­fiel es und sie hat­te sich da­für ein­ge­rich­tet, län­ger hier­zu­blei­ben.
Am näch­sten Tag wie­der­hol­ten sie den Kaffee­haus­be­such.

Als sie sich ver­ab­schie­de­ten, frag­te Lot­te: »Hast du mor­gen Lust auf ein Pick­nick am Strand?«

»Dort drü­ben ist das gro­ße Riff, aber das weißt du ja. Warst du schon mal dort?«, frag­te Lot­te und deu­te­te zum Meer hin­aus.

Bern­hard sah nach links und nick­te. »Ja … das heißt nein, ich war noch nicht drau­ßen. Aber ge­hört ha­be ich je­de Men­ge da­von. Wie lernt man das Riff ken­nen?«

»Es gibt viele In­seln mit traum­haf­ten Strän­den. Aber die wirk­lich atem­be­rau­ben­den Er­leb­nis­se hast du un­ter Was­ser. Hast du schon ein­mal ge­schnor­chelt?«

Bern­hard schüt­tel­te den Kopf. Schon der Ge­dan­ke da­ran ver­min­der­te die ak­tu­el­le Tem­pe­ra­tur um ein paar Grad und sog ein we­nig Far­be aus der Um­ge­bung. Was­ser war nicht sein Ele­ment. »Nein, kann ich mir in­te­res­sant vor­stel­len«, sag­te er statt­des­sen halb­her­zig. Er woll­te ihr nicht die Mög­lich­keit ge­ben, in ihm ei­nen Schwäch­ling zu ver­mu­ten. Er beug­te sich vor, schnitt ein Stück Fleisch ab und schob mit dem Mes­ser Reis auf die Ga­bel. Er kau­te und hielt sich die Hand vor den Mund.

Dann sag­te er: »Dan­ke für die­ses wun­der­ba­re Pick­nick.« Und nach­dem er her­un­ter­ge­schluckt hat­te: »Ich wuss­te gar nicht, dass Le­ben so schön sein kann.« Kaum hat­te er das ge­sagt, spür­te er ei­nen Stich und es fühl­te sich an, als be­trö­ge er Mar­got mit die­sen Wor­ten.

»Denkst du wie­der an sie?« Lot­tes Stim­me klang weich.

Er nick­te. Sie aßen stumm weiter. Zwi­schen sich ei­ne ka­rier­te De­cke, auf der Töp­fe und Scha­len mit Fleisch, Reis und Sa­la­ten stan­den. Da­ne­ben ein ge­floch­te­ner klei­ner Kof­fer, in dem exo­ti­sche Früch­te da­rauf war­te­ten, bis ihr Auf­tritt an die Rei­he kam.

 

»Es muss schlimm sein«, sag­te sie nach ei­ner Wei­le, »wenn man sei­nen Seelen­part­ner ge­trof­fen hat und ihn dann ver­liert.«

»Ja«, gab er zurück. »Aber es ist auch schlimm, wenn man zu zweit allei­ne ist.«

Sie klemm­te den Mittel­teil ih­rer Un­ter­lip­pe zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger und roll­te ihn be­däch­tig ab­wech­selnd nach außen und in­nen.

»Ja, ich ken­ne das«, er­zähl­te sie dem Meer. »Du merkst nicht, wie das pas­siert. Es schleicht sich ein, ganz lang­sam.« Sie wand­te ihm den Kopf zu. »Kennst du das auch?«

Er nick­te.

»Ir­gend­wann«, fuhr sie fort, »kommt dir ir­gend­et­was eigen­ar­tig vor, aber du weißt nicht ein­mal, was es ist. So, als ob du bis zum Hals un­ter Was­ser bist und der Spiegel steigt. Es fällt dir auf, wenn das Was­ser in dei­nen Mund rinnt. Doch selbst dann noch denkst du, dass du nur zu schlu­cken brauchst. Aber es rinnt nach und schnel­ler und mehr. Dann kommt der Augen­blick, wo du schnell ent­schei­den musst, ob du dich von der Flüs­sig­keit über­neh­men las­sen oder du selbst blei­ben möch­test.« Sie schwieg ein paar Atem­zü­ge lang. »Das ist nicht so ein­fach, denn wenn du her­aus­steigst, frierst du als Er­stes.«

Sie hob ei­ne Hand­voll Sand auf und ließ ihn durch ih­re Fin­ger rie­seln. Der Wind mo­del­lier­te die zum Boden rie­seln­den Sand­sträh­nen nach sei­ner Wei­se.

»Wie wird es bei dir weiter­ge­hen?«, frag­te Bern­hard. »Bleibst du hier? Gehst du zurück? Wirst du dich von dei­nem Mann tren­nen?«

Sie blick­te aufs Meer und zuck­te nach ei­ner Wei­le mit den Schul­tern. »Ich weiß es nicht. Deutsch­land ist so weit weg. Nicht nur was die Ent­fer­nung an­be­langt. Hier gibt es Son­ne und Strand und Meer und net­te Leu­te. Mir ge­fällt es hier. Du hast ja si­cher selbst schon be­merkt, was für ein ge­müt­li­ches Nest Cairns ist.«

Er nick­te. »Möch­test du denn ewig Ver­käu­fe­rin blei­ben? Hier? Ist dir das auf die Dau­er nicht zu lang­wei­lig?«

Sie blies die Ba­cken auf und lach­te. »Kei­ne Ah­nung! Weißt du, was mein Vater immer sagt?« Sie neig­te den Kopf und öff­ne­te die Hän­de nach oben. »Man sol­le alles tun, um so frei sein zu kön­nen wie ein Vogel.«

Frei wie ein Vogel. War er je­mals frei ge­we­sen?

»Frei wie ein Vogel …«, mur­mel­te er. »Ich ha­be immer ger­ne ge­ar­bei­tet. Aber wenn ich es so be­trach­te … so­lan­ge ich im glei­chen Tem­po in die­sel­be Rich­tung ru­der­te wie die an­de­ren, fühl­te es sich frei an. Aber als ich auf­hör­te, spür­te ich zum er­sten Mal, wie sich Ge­gen­strö­mung an­fühlt. Nein, ich glau­be, ich war nie frei. Du?«

Sie schüt­tel­te den Kopf. »Hier fühlt es sich zum er­sten Mal ein we­nig da­nach an.«

Sie schwie­gen ei­ne Wei­le. Drau­ßen zog mit ge­bläh­ten Segeln ein Ka­ta­ma­ran vor­bei. Ein lie­bli­cher Duft weh­te Bern­hard in die Na­se und er blick­te sich nach der Quel­le um, konn­te aber nichts fin­den. Viel­leicht ist es der Duft der Frei­heit, dach­te er und spür­te, wie sich sei­ne Mund­win­kel nach oben zo­gen. Er blick­te zur Sei­te. Der Wind spiel­te mit Lot­tes Haaren, sie hat­te die Augen leicht ge­gen die Hel­lig­keit zu­sam­men­ge­knif­fen, was ihr ei­nen nach­denk­li­chen Ge­sichts­aus­druck ver­lieh. Wie schön wä­re es, könn­te er mit Mar­got hier sit­zen. Nein, das gin­ge nicht, denn leb­te Mar­got noch, wä­re er nie hier. Er sä­ße im Büro, wür­de sei­ne Bau­stel­len ab­wi­ckeln, sich zwi­schen­durch mit sei­nem Tur­bi­nen­pro­jekt aus­ein­an­der­set­zen und mit Mar­got pla­nen, wie ih­re ge­mein­sa­me Zu­kunft aus­sä­he. Viel­leicht ein Kind, viel­leicht auch zwei? Ihm wur­de eng in der Brust, als er an all das dach­te. Eng aus Schmerz, aber auch eng in Hin­sicht auf das Be­rechen­ba­re, mit dem sein Le­ben dann viel­leicht weiter­ge­gan­gen wä­re.

»Was denkst du?«, frag­te Lot­te.

»Ich dach­te an die Gerad­li­nig­keit, die das Le­ben in Mittel­euro­pa hat. Heu­te ist es ja schon viel bes­ser. Aber zur Zeit mei­ner Eltern noch wur­de der Sohn oft, was der Vater war. Da war kein Platz für die per­sön­li­chen Träu­me.«

»Was nützt der Traum, wenn man kei­nen hat«, sag­te sie lei­se, oh­ne auf­zu­bli­cken.

»Du meinst, die Men­schen bei uns ha­ben kei­ne? Sind sie hier krea­ti­ver?«

»Ich glau­be schon, dass Men­schen bei uns zu Hau­se Träu­me ha­ben. Aber ich glau­be auch, dass es ta­bu ist, zu träu­men. Man träumt nicht, son­dern man ar­bei­tet. Schon die Bi­bel spricht vom Schweiß des An­ge­sichts, in dem man sich sein Brot ver­die­nen soll. Da bleibt we­nig Spiel­raum für Träu­me. Träu­men ist für Träu­mer und die wer­den als lebens­un­fä­hig nicht ernst ge­nom­men.«
»Aber wie soll­ten dann je­mals Er­fin­dun­gen mög­lich wer­den, wenn man nicht träu­men dürf­te?«, frag­te er und dach­te an sei­ne Tur­bi­ne.

Sie nick­te geis­tes­ab­we­send. Dann ver­lo­ren ih­re Zü­ge das Un­be­stimm­te und sie blick­te ihn an. »Was ist das eigent­lich mit dei­ner Tur­bi­ne? Ehr­lich ge­sagt ha­be ich nicht ver­stan­den, wo­rum es geht.«

Bern­hard freu­te sich über ihr In­te­res­se und auch da­rüber, dass das Ge­spräch den Treib­sand ver­ließ und wie­der auf fes­ten Boden ge­lang­te. »Am Mitt­woch habe ich mich mit dem In­ge­ni­eur ge­trof­fen, der für die For­schungs­ar­bei­ten in Kim­ber­ley fe­der­füh­rend ist. Es geht da­bei um ein Kraft­werk, das man in ei­ne Fluss­mün­dung baut und so so­wohl aus dem Druck des Flus­ses, als auch aus dem der Flut Nut­zen zieht. Ei­ne Tur­bi­ne, die in bei­den Rich­tun­gen aus dem Ge­fäl­le Ener­gie ge­winnt. Ich ha­be ei­ne Tur­bi­ne ent­wi­ckelt, die ei­nen bis zu drei Mal hö­he­ren Wir­kungs­grad er­laubt als her­kömm­li­che. Auch könn­te die­se Tur­bi­ne oh­ne den Damm aus­kom­men, so wie man in Ran­ce in Frank­reich be­gon­nen hat.«

»Macht dir die­se Ar­beit Spaß?«, frag­te sie, den Kopf schief ge­legt und blin­zelnd, denn mitt­ler­wei­le schlüpf­ten ab und zu Strah­len der Nach­mit­tags­son­ne durch die Pal­men und kit­zel­ten in den Augen.

»Spaß?« Er dach­te nach. War Spaß das rich­ti­ge Wort? Sein Vater hat­te ihn ge­lehrt, et­was Wich­ti­ges zu ma­chen, wä­re not­wen­dig, denn Er­folg ist ei­ne Grund­la­ge für Zu­frie­den­heit. Und die Er­leb­nis­se in den Flö­zen hat­ten ihm ein Be­tä­ti­gungs­feld ge­zeigt, das reiz­voll, exo­tisch, um­welt­freund­lich und auch noch so­zi­al war. Ging es da­bei um Spaß?«

 

»Spaß«, wie­der­hol­te er. »Muss Ar­beit denn Spaß ma­chen?«

»Wa­rum nicht?«

»Spaß kann man doch in der Frei­zeit ha­ben.«

»Und was spricht da­ge­gen, bei­des zu ver­bin­den?«

»Das ist … das ist …« Spon­tan woll­te er et­was ent­geg­nen, aber es fiel ihm kein Ar­gu­ment ein. So be­en­de­te er den Satz mit: »un­üb­lich.«

Lot­te lach­te laut auf. »Und wer gibt dir ei­nen Orden, wenn du Üb­li­ches machst? Bleibt nicht da­durch alles immer so, wie es ist? Künst­ler«, da­bei hob sie den Fin­ger, »Künst­ler ma­chen das zum Be­ruf, was ih­nen Freu­de be­rei­tet.«

»… und sind auf Al­mo­sen an­de­rer an­ge­wie­sen.«

»Nicht alle!« Lot­te setz­te sich ge­ra­de auf. »Schau dir Pi­cas­so an. Dem ging es auch zu Leb­zeiten gut.«
»Und schau du dir an, was für ein Kotz­bro­cken der war. Nein dan­ke.« Be­vor sie zum Kon­tern kam, frag­te er: »Und du, macht dir das Ver­kau­fen Spaß?« Jetzt hat­te er sie! Denn das konn­te kei­nen Spaß ma­chen. Den gan­zen Tag im Laden zu ste­hen und Ana­nas über die The­ke zu rei­chen.

»Ja«, sag­te sie schlicht.

Er run­zel­te die Stirn. »Ja?« Das gab es doch nicht.

»Ja. Zu Hau­se in Deutsch­land fän­de ich es si­cher nicht lus­tig. Aber hier? Ich ler­ne stän­dig et­was da­zu.«

»Da­zu? Du lernst was da­zu?«

»Na ja, es hält sich in Gren­zen. Aber ich hal­te die Oh­ren of­fen. Viel­leicht er­gibt sich et­was.«

Bern­hard stell­te die Tel­ler zu­sam­men und wi­ckel­te das Be­steck in ei­ne Ser­viet­te. So konn­te er Lot­te be­ob­ach­ten, die sich zum Meer ge­kehrt hat­te und mit über den Knien ge­fal­te­ten Hän­den in die Ferne blick­te. Sie war ganz an­ders als Mar­got, auch um ei­ni­ge Jah­re jün­ger. Ver­mut­lich fünf­zehn Jah­re jün­ger als er selbst. Sie wä­re in ei­nem idealen Al­ter für ei­ne Fa­mi­lie. Aber sie war kein Mutter­typ. Was ihr völ­lig fehl­te, war die­se la­ten­te Trau­rig­keit, die manch­mal stär­ker, dann wie­der schwä­cher in Mar­gots Augen ge­schim­mer­te hat­te. Lot­te war trotz aller ver­mut­lich auch ge­misch­ten Er­fah­run­gen von Grund auf po­si­tiv. Kei­ne al­te Trau­er, die stän­dig im Hin­ter­grund da­rauf lau­er­te, ei­ne Freu­de aus­zu­dämp­fen, son­dern fun­keln­de Neu­gier. Bern­hard war mit ei­nem Mal ent­setzt über sich selbst. Wie konn­te er vor we­ni­gen Mo­na­ten die Frau ver­lo­ren ha­ben, von der er glaub­te, in ihr sei­ne zwei­te Hälf­te ge­fun­den zu ha­ben, den Teil, um selbst kom­plett zu wer­den und nun … be­gehr­te er be­reits ei­ne an­de­re? Er schäm­te sich, er woll­te Mar­got nicht hin­ter­ge­hen. Wenn er aller­dings sei­ne Ge­füh­le ver­glich und hät­te an­ge­ben müs­sen, wo denn die­ser zie­hen­de Strang bei ihm ver­an­kert wä­re, so war es jetzt we­ni­ger das Herz, son­dern ei­nen Stock tie­fer. Und das ent­setz­te ihn gleich noch mehr. Er war doch jah­re­lang oh­ne ein über­mä­ßi­ges Be­dürf­nis nach Se­xua­li­tät aus­ge­kom­men und nun muss­te er sich zwin­gen, an ih­rem Bu­sen, Hin­tern und ih­ren Bei­nen vor­bei­zu­se­hen. Oder war das die tro­pi­sche Luft?

»Willst du kei­ne Kin­der?«, frag­te er sie und hoff­te im sel­ben Mo­ment, dass sie nicht Ge­dan­ken le­sen konn­te.

»Kin­der?«, frag­te sie so zurück, als wä­re sie noch mehr in ih­ren Ge­dan­ken als bei sei­ner Fra­ge. »Nein.«

»Wa­rum nicht? Alle Frau­en wün­schen sich doch Kin­der.«

»Ich nicht«, ant­wort­ete sie knapp. Ein wun­der Punkt?

»Du magst nicht da­rüber spre­chen.«

Sie seufzte. »Ich kann kei­ne be­kom­men.«

»Oh. Das tut mir leid.«

»War auch ei­ner der Grün­de, wa­rum es mit uns berg­ab ging. Ich weiß nicht, ob es bes­ser ge­wor­den wä­re. Ich möch­te Kin­der nicht als Kitt miss­brau­chen, weil die Be­zie­hung oh­ne nicht hält. Wahr­schein­lich ist es bes­ser so.«

Bern­hard bog den Hals, hielt Aus­schau nach den Früch­ten in Lot­tes Korb. Ana­nas, Pa­paya und Pass­ions­frucht. Er blick­te zu ihr, fühl­te sich er­tappt.

Sie lä­chel­te. »Auch ei­ner der Grün­de, wa­rum ich nicht mit Be­geis­te­rung an Deutsch­land den­ke.« Sie nahm ein Mes­ser, rei­nig­te es mit ei­ner Ser­viet­te und klaub­te ei­ne Pa­paya aus dem Korb.
Bern­hard be­ob­ach­te­te mit wach­sen­dem Un­be­ha­gen sei­ne Ge­füh­le, für die Lot­te ver­ant­wort­lich war. Er hat­te es sich un­ver­brüch­lich im Flug­zeug ver­spro­chen, an Be­zie­hun­gen nicht ein­mal mehr Ge­dan­ken zu ver­schwen­den. Hat­te die­ses The­ma ein für alle Mal ab­ge­hakt. Woll­te sich nicht ein drit­tes Mal der­ma­ßen aus der Bahn wer­fen las­sen. Er woll­te sich doch nur auf sei­ne tech­ni­sche Vi­sion kon­zen­trie­ren. Ar­beit und nichts an­de­res! Oh­ne links und rechts zu schau­en. Wür­de er das, könn­te er aus dem Le­ben ein größt­mög­li­ches Maß an Be­frie­di­gung zie­hen, oh­ne in qual­vol­len, emo­tio­na­len Stru­del die Orien­tie­rung zu ver­lie­ren. Er könn­te so gleich­er­ma­ßen et­was für sich tun als auch für die Mensch­heit. Könn­te selbst das Le­ben ge­nie­ßen, in­dem er das tat, was ihm Freu­de be­rei­te­te, wäh­rend er gleich­zei­tig ei­ne zwei­te Quel­le des Wohl­be­fin­dens an­zapf­te: die Ge­nug­tu­ung – und viel­leicht so­gar in Wor­te oder Ar­ti­kel ge­fass­tes Wohl­wol­len – da­für, dass er et­was für die Um­welt und All­ge­mein­heit ge­tan hat­te. Wo­bei die Um­welt ver­mut­lich den meis­ten egal sein wür­de, das war ja nur sei­ne per­sön­li­che Sicht durch sei­ne Ze­che­ner­leb­nis­se. Was konn­te ein Mensch mehr von sei­nem Le­ben er­war­ten? War er nicht in Wirk­lich­keit mit gro­ßer Gna­de ge­seg­net, das tun zu dür­fen, was ihm ein Her­zens­an­lie­gen war?

Und nun das? Ei­ne klei­ne Ver­käu­fe­rin aus ei­nem aus­tra­li­schen Lebens­mittel­laden stell­te un­ter Zu­hil­fe­nah­me ei­nes ba­na­len Pick­ni­ckkor­bes sei­nen gan­zen schö­nen Lebens­plan in­fra­ge? Das konn­te er nicht zu­las­sen. Nein, ganz si­cher nicht.

Doch dann mel­de­te sich ei­ne Stim­me in sei­nem Kopf, die ihm zwar in letz­ter Zeit ab und an va­ge auf­ge­fal­len war, aber es nie so wirk­lich ins Be­wusst­sein ge­schafft hat­te. Ei­ne neue Stim­me mit un­an­ge­neh­men Mel­dun­gen. So zum Bei­spiel ge­ra­de eben: ›Mein Lie­ber‹, sag­te sie und ver­är­gert glaub­te er, auch noch ei­nen An­satz von Hohn wahr­zu­neh­men, ›waren die Pa­ra­me­ter nicht an­de­re, als du dich die letz­ten Jah­re in Be­ruf und Vi­sion ver­grubst?‹

Nun ja, schon …

›Du hast ei­nen zwei­ten Schock er­lebt, da­mit du mal dei­nen Hin­tern zu be­we­gen be­ginnst. Du kannst doch nicht im Ernst an­neh­men, dass alles so weiter­geht wie frü­her?‹
Und was hat­te das mit Lot­te zu tun?

›Alles, mein Gu­ter! Das mit dem Ein­gra­ben funk­tio­niert nicht mehr. Nicht um­sonst bist du im Land der Strau­ße.‹

Das wer­den wir ja se­hen, ob das nicht funk­tio­niert. Und: Sag nicht immer ›mein Gu­ter‹ oder ›mein Lie­ber‹, das hat­te mei­ne Mutter schon zur Ge­nü­ge ge­tan! Jetzt glaub­te er, auch noch ein lei­ses, pe­ne­tran­tes Ki­chern zu hö­ren. War ir­gend­et­was mit den Früch­ten nicht in Ord­nung?

»Alles klar bei dir, Bern­hard?«

»Äh … na­tür­lich. Wes­halb?«

»Ach nichts. Du kamst mir nur recht ab­we­send vor.«

 

Die Son­ne war zwar noch als Licht vor­han­den, aber vom sicht­ba­ren Ho­ri­zont war sie ver­schwun­den, als Bern­hard und Lot­te, De­cke ge­schul­tert und Pick­ni­ckkorb in der Hand, zu ih­rem Auto gin­gen. Die Auto­mar­ke Hol­den war Bern­hard un­be­kannt ge­we­sen, bis er mit Stirn­run­zeln vor dem zwei­far­bi­gen Ge­fährt ge­stan­den war: die Ka­ross­erie in hel­lem Oliv­grün, das Dach weiß. Es war der Wagen ih­res Vaters, der Autos lieb­te, seit es wel­che gab. Als ge­nau im Jahr 1900 Ge­bo­re­ner war für ihn die­se Ent­wi­cklung be­rau­schend ge­we­sen. Lot­te hat­te Bern­hard auf­ge­klärt, dass dies der größ­te aus­tra­li­sche Auto­mo­bil­her­stel­ler wä­re und die meis­ten Leu­te ei­nen Hol­den füh­ren.

Schon beim Zu­sam­men­pa­cken hat­te Lot­te ihn manch­mal wie un­ab­sicht­lich be­rührt. Auf dem Weg zum Auto lach­te sie ein­mal, wo­bei sie ein we­nig die Ba­lan­ce ver­lor und an ihn stieß. Ein wei­te­res Mal war es ihm vor­ge­kom­men, dass sie ei­nen Stein zum An­lass ei­nes ver­se­hent­li­chen Stol­perns ge­nom­men hät­te. Nun, als die Heck­klap­pe of­fen­stand und alles ver­staut war, leg­te sie ih­re Hand auf sei­ne und frag­te ihn, ob er nicht Lust hät­te, mit ihr heu­te Abend tan­zen zu ge­hen.

Um Him­mels Wil­len, sie war doch fünf­zehn Jah­re jün­ger als er. Ob­wohl … körper­lich wä­re er durch­aus da­zu in der La­ge. Nach dem Krieg hat­te er es zwar zu­erst als an­ge­nehm emp­fun­den, sich nicht mehr körper­lich ver­aus­ga­ben zu müs­sen. Doch nicht lan­ge da­nach hat­te ihm et­was ge­fehlt. Er hat­te be­gon­nen, we­nigs­tens je­den zwei­ten Tag ei­nen Dau­er­lauf von min­des­tens ei­ner hal­ben Stun­de ein­zu­le­gen, und das hat­te ihm körper­lich da­zu ver­hol­fen, ei­ne gu­te Fi­gur zu be­hal­ten. Dass das nun sol­che Aus­wir­kun­gen zeig­te, schmei­chel­te ihm. Aber was war mit der Ab­ma­chung sich selbst ge­gen­über? Nein, er woll­te dem wi­ders­te­hen. Wenn er schon so weit ge­kom­men war, dass er sich sei­ne Ar­beit aus­su­chen konn­te … nein, er woll­te sein Glück nicht ge­fähr­den. Denn, wer weiß, wo­hin ihn das füh­ren wür­de. Am En­de zu ei­ner Fa­mi­lie, ei­nem Haus und ge­müt­li­cher Sess­haf­tig­keit. An­de­rer­seits … Lot­te war ein ver­füh­re­ri­sches und un­kom­pli­zier­tes We­sen. Nein, sie war mehr. Er dach­te an die Ge­sprä­che die­ses Nach­mit­tags zurück, und ih­re un­ge­zwun­ge­ne Fröh­lich­keit, mit der sie alles in An­griff nahm, be­ein­druck­te ihn.

 

»Tan­zen?«, frag­te er zurück.

»Ja, tan­zen. Hier gibt es ei­ne wun­der­ba­re Tanz­bar, wo sams­tags ei­ne Com­bo spielt.«

»Ich war so gut wie nie tan­zen … nein, ich kann das nicht.« Wie konn­te er sich nur aus die­sem An­ge­bot her­aus­la­vie­ren? Tan­zen auch noch mit ihr, das wür­de ga­ran­tiert all sei­ne Vor­sät­ze den Bach hin­un­ter­ge­hen las­sen.

Sie sah ihn von un­ten her­auf an, zog ei­nen sü­ßen Schmoll­mund.

»Nein, Lot­te, nein, das geht nicht. Ich muss noch bis Mon­tag ei­ne Men­ge vor­be­rei­ten. Ich ha­be dir ja er­zählt, dass ich nach Mel­bour­ne flie­ge.«

Sie seufzte. »Zwin­gen möch­te ich dich na­tür­lich nicht, mit mir aus­zu­ge­hen.« Sie dreh­te sich ein­mal im Kreis, was ihr Som­mer­kleid ei­nen tel­ler­ar­ti­gen Kreis um sie be­schrei­ben ließ und ei­ne Men­ge Bein zeig­te. »Dann muss ich je­man­den an­deren fra­gen.«

Was war das denn? Ei­ne klei­ne Er­pres­sung? Und – stör­te das et­wa auch noch, wenn sie mit je­mand an­derem aus­ging? Das wä­re doch lä­cher­lich. Nein, aus Schluss. »Lot­te, es tut mir wirk­lich leid, heu­te geht es ein­fach nicht mehr. Ein an­der­mal?«

Sie press­te die Lip­pen zu­sam­men und mach­te ein sehr kon­zen­trier­tes Ge­sicht. »Hm … ein an­der­mal. Nun, ich wer­de dann nach­se­hen, ob ich in mei­nem Termin­ka­len­der noch ein Plätz­chen fin­de. Ver­spre­chen kann ich da aber nichts …«

Sie schmoll­te zwar nun ganz of­fen­sicht­lich, schien ihm aber nicht bö­se zu sein. Er klopf­te sich in­ner­lich auf die Schul­ter, dies­mal ent­wischt zu sein. Und er stell­te fest, dass er froh war, sie nicht ver­är­gert zu ha­ben. Dass er froh war, är­ger­te ihn hin­ge­gen wie­der­um.

Als sie bei sei­nem Hotel an­ka­men, stie­gen bei­de aus, ka­men ein­an­der ent­ge­gen und lehn­ten sich an den Küh­ler­grill, un­ter dem es ab­küh­lend knis­ter­te. Ein paar Autos fuh­ren vor­über, die er mit sei­ner neu­en Kennt­nis tat­säch­lich zu ei­nem gro­ßen Teil als Hol­dens ein­ord­nen konn­te. Nor­ma­le Li­mou­si­nen und sol­che, de­ren hin­te­re Sitz­rei­he und Kof­fer­raum ei­ner La­de­flä­che ge­wi­chen waren. Auch sol­che Autos waren ihm fremd.

Er zeig­te auf ei­nen die­ser Per­so­nen-Last­wä­gen, wie er sie bei sich nann­te. »So et­was gibt es bei uns zu Hau­se auch nicht«, sag­te er.

Sie schüt­tel­te den Kopf. »Dort gibt es aber auch kei­ne Far­men, zu de­nen man ewig weit übers Land fah­ren muss. Die­se Art von Kom­bi-Fahr­zeugen sind hier sehr ge­fragt.« Dann dreh­te sie sich zu ihm. »Und du bist dir ganz si­cher we­gen heu­te Abend …? Viel­leicht Auto­ki­no? Theater? Es muss ja nicht tan­zen sein.«

 

»Heu­te geht es nicht, wirk­lich.« Da­bei be­müh­te er sich, ein mög­lichst un­tröst­li­ches Ge­sicht zu ma­chen. Sie tat ihm leid, wie sie ihn mit ei­ner Mi­schung aus Hoff­nung und Trau­rig­keit an­sah. »Viel­leicht wenn ich zurück bin?«

»Oh ja!« Mit der Schnel­lig­keit ei­nes Wim­pern­schlags hat­te sie auf strah­lend um­ge­schal­tet und wirk­te wie ein über­mü­ti­ges jun­ges Mäd­chen. »Ich freue mich da­rauf!« Dann dreh­te sie den Kopf von ihm weg und bot ihm ih­re Wan­ge. »Hier«, sag­te sie und tipp­te da­rauf, »darfst du mir ei­nen Ab­schieds­kuss hin­ter­las­sen. Als Pfand so­zu­sa­gen.«

Er beug­te sich hin­un­ter, hauch­te ihr ei­nen Kuss auf die Wan­ge, dreh­te sich um und sah zu, dass er fort­kam. Das alles war ihm viel zu bri­sant. Außer­dem är­ger­te er sich, ihr ein Tref­fen in Aus­sicht ge­stellt zu ha­ben.