Teil II – Meisterung
Du hast nur einen wahren Freund.
Es ist der Weg, den dir dein Herz zuraunt.
Danach
Absolute Stille herrschte in Bernhard. Bis auf ein dumpfes, gleichmäßig pulsierendes ufh … ufh … ufh in seinen Ohren war er taub. Das wilde Treiben, das nach dem alle lähmenden Schock nach Schuss und Handgemenge auf dem Bahnsteig aufbrandete, nahm er nur als leises, wattiges Nuscheln wahr, so, als hätte er Ohrstöpsel. Sanft legte er seine Hand an ihre Wange, worauf ihr Kopf sich ihm zudrehte. Seine Finger zitterten. Ihre Augen blickten an seinem Kopf vorbei. Haarscharf vorbei. Er drehte ihren Kopf ein kleines Stück weiter und nun ging ihr Blick durch ihn hindurch. Warum sagte sie nichts?
»Hey, du«, sagte er weich. Aber ihr Kopf lag stumm in seiner Hand. »Nein«, dachte er, »nein …« So saß er lange. Da war keine Zeit.
Er spürte es. Zuerst runzelte er die Brauen und hörte in sich hinein. Da war es wieder. Es kroch kalt seinen Rücken hoch. Er nahm die Hand von ihrem Gesicht. Ihr Kopf rollte wie der einer Puppe zur Seite und ihr Blick verlor sich irgendwo in den Streben der Dachkonstruktion des Bahnsteigs. Dann kehrten die Geräusche zurück. Ganz zaghaft, als trauten sie sich nicht, dann zügiger und schließlich mit der Vehemenz des Sprungs einer Raubkatze brachen sie über ihn herein. Das Donnern der Räder des Zugs neben sich, das Quietschen der Bremsen, das Zischen von Ventilen, Fauchen von Pressluft, dumpfe Schläge, als fielen Säcke aus einem Fenster auf den Bürgersteig, Knirschen, vereinzelte Rufe – er konnte sie nicht verstehen. Vor ihm die mahlenden Räder der Waggons, ausrollend, das Pfeifen der Lokomotive, etwas wurde über Beton gezogen, glasklar nahm er jedes Geräusch wahr, als kämen sie alle der Reihe nach zu ihm, um gehört zu werden, um Versäumtes wettzumachen. Dann senkte er den Blick wieder hinunter und dann, erst dann kroch wie ein Heer kalter Quallen die Erkenntnis in ihm hoch, was geschehen war.
Er riss den Kopf herum. Drüben stand Ptak, schwer atmend, sein Schnurrbart stand wirr in alle Richtungen. Am Boden lagen die beiden Männer. Ein Mann in Uniform stürzte aus dem Gebäude, sich im Laufen seine Mütze aufsetzend. Die Türen des Zugs wurden aufgestoßen und ein paar Fahrgäste stiegen aus. Ein Mann in einem beigen Perlonmantel mit Aktentasche, eine Mutter mit einem vielleicht zehnjährigen Jungen, eine alte Frau setzte vorsichtig Fuß für Fuß auf die Eisenstufen, hielt sich am Geländer der Waggontür. Dann sank sein Blick zurück in seinen Schoß. Als er das Blut unter seinem Fuß hervorrinnen sah, durchlief ihn ein Zittern.
Er riss den Kopf hoch. »He! Hee!«, schrie er. »Einen Krankenwagen! Schnell! Hallo! Warum tut niemand etwas?« Gehetzt sah er sich um, Ptak ging langsam auf ihn zu. Er sah, wie ein weiterer Bahnbediensteter in die Halle stürzte, so heftig, dass die Tür innen anschlug. Ptak legte ihm seine Hand auf die Schulter.
Bernhard sah zu ihm auf, sah in seine Augen, sah Bestürzung, die erste Emotion, seitdem er ihn kennengelernt hatte. »So tun Sie doch was«, rief er. »Bitte … bitte, tun Sie was …« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern und Ptaks gewaltiger Schnurrbart und sein ernstes Gesicht verschwammen. Er beugte sich vornüber, nahm Margot in den Arm, tastete sie ab, ihren Arm, ihren Hals, ihre Haare, ihr Gesicht. Irgendetwas fehlte. Was war das? Was war es nur. Verzweifelt wühlte er in seinen Erinnerungen. Was nur …?
Bis es ihm einfiel.
Es war ihr Duft. Sie hatte ihn mitgenommen.
Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Faustschlag und sie war es, die all seine aufschäumende Verzweiflung aus ihm hinausbrechen ließ. Unscharf Ptaks Gesicht, vergeblich zwinkerte er den Tränenstrom weg und schluchzte: »So … tun Sie … doch … etwas.«
Irgendwo nahm er Sirenen wahr, Getrappel, sanft, doch bestimmt schob sich ein Arm unter seinen und wollte ihn aufrichten. Er klammerte sich an Margot. Doch der Druck der Hand nahm zu, zog ihn hoch. Gleichzeitig griff jemand anderes unter Margot. Plötzlich stand eine Trage da. Nein, er wollte nicht von ihr fort. Aber mit sanfter Bestimmtheit wurden sie getrennt. Margot lag auf der Bahre. Eine Blutspur von ihr zu ihm.
Die letzte Verbindung zwischen ihnen.
Der Mann, der ihm aufgeholfen hatte, nahm seinen Arm von ihm. Schwankend stand er da, blickte hinunter, sah zu, wie jemand ein weißes Tuch über sie breitete, und als es über ihren Kopf gezogen wurde, konnte er sich nicht mehr halten. Er schrie! Wild blickte er um sich, schrie, wo die Schweinehunde wären, er würde sie umbringen, diese verdammten Schweine. Seine Stimme überschlug sich. Hände hielten ihn fest. Margot wurde hinausgetragen. Die beiden am Boden liegenden Männer wurden mit Tragen abtransportiert.
»Es tut mir leid«, sagte Ptak in sein Ohr, »mein allergrößtes Beileid, Herr Ferrätti … kommän Sie …«
Ptak führte ihn hinaus, stützte ihn wie einen Betrunkenen, half ihm beim Einsteigen in den Wagen, umrundete den Aston Martin, stieg ein, startete und fuhr los.
Sie hielten bei Ptaks Haus, gingen hinauf in dessen Wohnung.
Dann saßen sie am selben Platz in denselben Sesseln, als Bernhard hier gewesen war, um Ptak zu engagieren.
Down Under
Bernhards Kopf war auf seine Brust gesunken, das eintönige Rauschen der Lüftung und der Motoren hatten ihn ermüdet. Sie waren von Singapur aus vor etwa zwei Stunden zur letzten Etappe gestartet. Eine Zwischenlandung in Darwin, dann würden sie Cairn erreichen. Weit weg hatte er gewollt und weiter als Australien ging nicht.
Nach Margots Beerdigung hatte er versucht, in seine Arbeit zurückzufinden, aber er war gescheitert. Alles im Büro erinnerte ihn an sie, alles im Ort, nein, es war der Ort selbst. Das trostlose Wetter hatte seine Stimmung ins Unerträgliche gesteigert. Eines Tages beschloss er, alle Brücken hinter sich abzubrechen. Lange genug war sein Leben in einem mehr oder weniger erfolgreichen Einerlei verlaufen. Mit Margot zusammen und vielleicht Kindern hätte es einen Reiz gehabt, so fortzufahren, aber nicht so. Neue Ufer, eine neue Herausforderung, etwas Großes schaffen, für sich und andere. In Australien betrieb man Studien zur Gezeitenenergie und dort wollte er beginnen.
Stück für Stück demontierte er sein bisheriges Leben. Physisch begann er bei seiner Turbinenkonstruktion in der Badewanne, trug die teuren Teile zum Schrotthändler, einen Käufer zu suchen hatte er kein Interesse. Finanziell war er so gut abgesichert, dass er gute zehn Jahre sein Auskommen hätte. Dann stürzte er sich in die Arbeit, praktisch Tag und Nacht, Weihnachten und Neujahr schlief er nur wenige Stunden täglich. Er wollte schnellstmöglich fertig werden, um seine übers Jahr laufenden Baustellen mit möglichst wenig Altlasten weitergeben zu können. Zwei seiner Techniker wären zur Auswahl gestanden, seine Nachfolge im Betrieb anzutreten. Als er erfuhr, dass Johnny Hammes mit Gretchen zusammen war, Margots Freundin, gab er ihm den Vorzug. Lediglich mit Edgar traf er sich hie und da abends im Carambolage auf ein Bier. Es tat ihm leid, seinen Freund zu verlassen. Obgleich dieser ihn zu überreden versuchte, hierzubleiben, ihm versicherte, es würde besser werden und seine Trauer vergehen, hielt er an seinem Vorsatz fest.
Am 26. Januar war es dann so weit gewesen. Er hatte eine kleine Abschiedsfeier ausgerichtet, nach der er Gretchen eine ansehnliche Summe dafür gab, dass sie sich um Margots Grab kümmerte. Alles war verkauft. Seine Giulia hatte er auf der zerkratzten Seite neu lackieren lassen. Dann überließ er sie Edgar zu einem Freundschaftspreis.
Ein Taxi hatte ihn schließlich zum Flughafen gefahren und bald darauf war er nach Südosten in den Himmel gestiegen, sein gesamtes Hab und Gut in einem großen Reisekoffer.
Er erwachte, weil sein Sitznachbar ihm auf den Arm klopfte. Vermutlich für längere Zeit die letzte deutsche Stimme, ein Ethnologe aus Berlin. »Sehen Sie? Das Meer, dort drüben muss das Barriere-Riff sein. Und sehen Sie den Regenwald dort? Und dieses unglaublich weite Grasland. Ich liebe Down Under.«
Bald darauf schüttelte ihn ein unsanftes Rumpeln durch. Die Landung war keine Meisterleistung des Piloten gewesen. Dabei war die australische Fluggesellschaft bekannt für ihre Qualität. Er verabschiedete sich von dem Mann, dessen Namen er vergessen hatte. Er würde ihn ohnehin nie wieder sehen. Er blieb sitzen, wartete, dass ein Teil der Passagiere das Flugzeug verließ. Als der Passagierstrom lichter wurde, stand er auf, hob die kleine Tasche aus der Gepäckablage über sich und fädelte sich in die letzten wartenden Passagiere ein. Langsam kroch die Schlange nach vorne. Durch die geöffnete Tür der Douglas C-54 Skymaster der Trans Australien Airlines warf ihm die Sonne einen fast aggressiven Lichtstrahl entgegen. Auf dem oberen Podest der Fahrgasttreppe drängte er sich dicht ans Geländer, um die anderen Passagiere vorbeizulassen. Die glänzende Metallhaut des Flugzeugs verstärkte die unwirkliche Stimmung. War er nun wirklich hier? War das wahr? Die Hitze ließ ihn seine Jacke ausziehen, hier war gerade die heißeste Jahreszeit und die garantiert dreißig Grad trieben ihm den Schweiß auf die Stirn.
Sein neues Leben. Was ihn wohl erwartete?
Er trat zur Seite, ließ sich mit dem Strom der anderen fortspülen. Zollformalitäten, Übernahme seines Gepäcks. Während der Flieger für ihn noch wie eine Nabelschnur war, so war hier, vor dem Flughafengebäude, selbst sie zerschnitten. Er stieg in ein Taxi und ließ sich in ein beliebiges Hotel fahren.
Der Balkon, auf dem Bernhard saß, lag ostseitig, somit bereits im Schatten. Er hatte es sich auf einem Korbstuhl bequem gemacht, ein Bier auf einem ausgeblichenen Plastiktisch neben sich. Unter ihm rollte karger Verkehr. Weiter drüben der blaue Teppich des Pazifiks, von dem der Ethnologe aus dem Flugzeug gemeint hatte, dort müsse irgendwo das berühmte Barriere-Riff liegen mit seiner tiefsten Meeresschlucht, dem Marianengraben.
Ihm war heiß, ein leichter Wind wehte vom Meer herüber und es kam ihm so vor, als hätte ihn das Flugzeug auf irgendeinem fernen Planeten abgesetzt. Aber genau das hatte er ja gewollt. Dass sich nun alles anders anfühlte, als er es sich gedacht hatte, war eine andere Sache. Er rückte den Stuhl näher zum Balkon und legte die Beine auf das Geländer. Außerhalb des Orts, so hatte er aus dem Flugzeugfenster heraus festgestellt, dehnte sich Grasland, und sanfte, dicht bewaldete Hügelketten umschlossen die Kleinstadt weitläufig. Als sich Erinnerungen in sein Gedächtnis schoben, stand er auf und schlenderte ins Zimmer. Er sah auf den geöffneten Koffer. Keine Ahnung, wie lange er hierbleiben würde. Also räumte er den Inhalt in den Schrank. Dann nahm er sein Englischbuch aus der Reisetasche und setzte sich wieder ins Freie.
So gut wie möglich hatte Bernhard in den letzten Wochen zwischen seinen hektischen Abschlussarbeiten sein Englisch aufgebessert, das er von der Gefangenschaft her noch konnte. Aber auf Schritt und Tritt hatte er hier feststellen müssen, wie dürftig es trotz allem war. Ob beim Zoll oder bei der Hotelsuche oder im Hotel selbst. Es ärgerte ihn, dass er sich dadurch wie behindert vorkam.
Der Wind wehte unbekannte Vogelstimmen an sein Ohr. Sie kamen von den Bäumen, die wahrscheinlich Eukalyptusbäume waren oder Akazien. So stand es jedenfalls in dem Reiseführer. Er war neugierig, wann er erstmals diese naserümpfenden Wollknäuel, die Koalabären, sehen würde.
Nach einer halben Stunde gab er auf, seine Gedanken ließen sich nicht so einfach verscheuchen. Zu allen Tages- und Nachtzeiten tauchte vor seinem inneren Auge Margots leerer Blick auf. Er schluckte und zwang die Tränen, die seinen Hals heraufkrochen, wieder zurück. Er wollte eine Runde spazieren gehen.
Schnell hatte er den Stadtkern hinter sich gelassen und schritt an einstöckigen Häusern vorbei, zwischen denen Palmen aussahen wie Staubwedel, die im Boden steckten. In dieser Straße führten bei sämtlichen Häusern Treppen in den ersten Stock hinauf, der offenbar den eigentlichen Wohnbereich stellte. Dann folgten kleinere Bungalows. Zu einem Haus bog gerade ein roter amerikanischer Mittelklassewagen mit weißem Dach ein. Ein Mädchen kam aus dem Haus, ging zu dem Briefkasten, und entnahm der Ablagefläche auf der Rückseite die dort wartende Milchflasche. Bernhard lächelte. Ländlicher ging es kaum. Offenbar der Bruder des Mädchens und deren Mutter kamen aus dem Haus und begrüßten den Fahrer des Wagens. Die Familie schien wieder vereint zu sein. Gerade als Bernhard auf gleicher Höhe war, öffnete der Fahrer den Kofferraum, faltete eine Folie auf und Bernhard konnte einen Blick auf unzählige, frisch gefangene Krebse werfen. Konnte man die hier einfach so fangen?
Ein paar Mädchen fuhren auf Fahrrädern vorbei, sie kamen wohl aus der Schule.
Eine Weile später ließ er auch die Bungalows hinter sich und wanderte durch einen lichten Wald, und wieder fragte er sich, ob das nun Eukalyptus wäre. Das war schließlich der Stoff von Hustenbonbons aus seiner Kindheit. Weiter ging es dann unter Palmen über sperriges Gras, viel gröber als daheim. Nach einer Weile tat sich zwischen den Palmenstämmen und über den zurücktretenden Büschen die Weite auf, blau und nochmals blau. Das dunklere Blau des Meeres traf sich irgendwo in einer feinen Linie mit der helleren Fläche des Himmels.
Er setzte sich auf einen Stein.
Oft war er seit Margots Tod das Thema durchgegangen: Nie wieder würde er eine Frau näher an sich heranlassen. Seine erste Frau war gestorben und nun die zweite, zu der er tiefe Gefühle entwickelt hatte – und das nach so kurzer Zeit. Zweimal so endgültiger Trennungsschmerz – das reichte. Es brachte einfach nichts, sich auf diese Weise auszuliefern. Sich abhängig zu machen von der Zugehörigkeit zu anderen Menschen. Was brauchte er mehr als sich? Er stützte sein Kinn auf seine Fäuste, die er auf dem Knie übereinandergesetzt hatte. Hier würde er ewig sitzen können und das Meer beobachten. Oder an einem anderen Ort der Welt. Nur so wäre er unabhängig und müsste sich keinem weiteren Schmerz mehr aussetzen müssen. Es war doch auch all die Jahre gut gegangen, bevor er Margot getroffen hatte. Sie hatte ihn hinauskatapultiert aus seinem Gleichmaß, seiner kleinen, freudarmen, aber immerhin heilen Welt. Die hatte ihr Gutes gehabt. Wahrscheinlich wäre er nie freiwillig aus dem Baugeschäft ausgestiegen. Er war ein geachteter Mann in dem Ort gewesen. Hie und da eine kleine Affäre, wenn ihm zu einsam ums Herz wurde. Na ja, vielleicht ehrlicher, wenn ihn der Drang nach Vereinigung dazu trieb. Er lachte kurz auf. Ja, genau, deshalb hieß es ja Trieb. Vielleicht wäre er einmal Carlas Charme erlegen, wer weiß. Sie war ein nettes Mädchen. Sie roch immer so appetitlich und sie war ungewöhnlich hübsch. Nicht nur einmal hatte er mitbekommen, wie Lieselotte anzügliche Bemerkungen zu Lothar gemacht hatte, dass er eine so hübsche Sekretärin angestellt hatte.
Dann dachte er über die Eifersucht nach. Was war die für eine seltsame Sache. Wenn ein Mann mit einer anderen Frau ins Bett stieg, dann war das eine Katastrophe. Wenn ein Mann sich aber mit einer anderen Frau besser verstand, dann machte das nichts aus. Er erinnerte sich noch an die Zeit mit Henni. Henni war eine Frau gewesen, die er als lieb bezeichnete. So richtig zum Heiraten und Kinderkriegen. Sie wäre sicher eine perfekte Mutter gewesen und hätte es aufs Trefflichste verstanden, die Familie zusammenzuhalten. Aber mit ihr zu philosophieren, wie er es gelegentlich gern tat? Daran war nicht zu denken. Das interessierte sie einfach nicht. Begann er mit irgendeinem Thema, woher der Mensch käme, wohin er ginge oder dergleichen, so wurde sie regelmäßig müde. Sie sagte es ihm nie direkt ins Gesicht, so war Henni nicht. Sie wollte nie jemanden verletzen. Sie kommunizierte unterschwellig. Auch auf seine Bemerkungen zu diesem Verhalten ging sie nie ein. Manchmal hatte ihn dieses Nicht-Aussprechen wahnsinnig gemacht. Irgendwann hatte dann auch er aufgehört über bestimmte Themen zu sprechen. Als sie beisammen waren, war ihm nie aufgefallen, was ihm alles fehlte. Die Tage hatten sich aneinandergereiht wie eine endlose Perlenkette. Jeder von ihnen lebte in seiner eigenen Welt vor sich hin und außer den Berührungspunkten, die ihnen durch die äußeren Notwendigkeiten aufgezwungen wurden, gab es kaum welche. Nun, so ganz stimmte das nicht, denn die Geborgenheit einer im Entstehen begriffenen Familie war schließlich keine Notwendigkeit. Oder doch?
Er zog eine Zigarette aus der Packung und versuchte, sie in der hohlen Hand zu entzünden. Der auflandige Wind machte das zu einem Geduldsspiel. Das Feuer war an einer Seite aufgesprungen, mit den nächsten Zügen fraß sich die Glut rundherum, verteilte sich gleichmäßig. Er schüttelte das Feuerzeug neben seinem Ohr. Bei Gelegenheit müsste er für Benzinnachschub sorgen. Bisher war ihm gar nicht aufgefallen, dass Salz roch. Oder war es in Wirklichkeit eine Prise aus Algen und vermodernden Pflanzen, die das Meer gepökelt an seinen Strand gespült hatte? Kreischend kreisten schwarze Vögel über ihm, kamen ihm dabei zuweilen so nahe, dass er glaubte, er könne sie berühren, streckte er seine Hand nach ihnen aus.
Ja, was wollte er eigentlich, was erwartete er sich vom Leben? Hatte er sich diese Frage jemals gestellt? Oder hatte er sich einfach dahintreiben lassen wie ein Stück Holz in einem Bach? War sein Leben nicht diesem Getriebenwerden bisher sehr ähnlich gewesen? Warf man ein Stückchen Holz in einen Bach, dann trieb es eine Weile munter schaukelnd auf den Wellen, wippte froh auf und ab. Dann waren zwei Steine im Weg und es hing fest. Zwar wippte es mit dem Wasser, das ständig in Bewegung war, aber es verharrte an derselben Stelle. Bis ein Regen kam. Der gab dem Bach Kraft, er plusterte sich auf und hob das Stück Holz einfach über die beiden Steine, die es festhielten. Damit war es dann wieder flottgekommen und ritt weiter auf den Wellen. Diesmal eifriger, ja eilig, als hätte es etwas Versäumtes aufzuholen. Er stieß die Luft aus und presste die Lippen kurz zusammen. Wie das Leben. Nein: wie sein Leben. Nein, doch: Wie das Leben. Gab es hinter all den Geschichten, von denen jede eine eigene, sehr persönliche war, auch etwas, das für alle gleich war? Sozusagen eine Art Regelwerk, nach dem man sich richten konnte? Etwas, wo man nachlesen konnte, was wichtig war?
Er schnippte die Zigarette weit weg in den Sand. Gern versuchte er, die Kippen so weit wie möglich wegzuschnippen. Spannte seinen Zeigefinger an, bis die Sehnen straff waren wie die eines Bogens, versuchte sich im optimalen 45-Grad-Winkel, um die größte Entfernung zu erreichen. Diesmal nahm der Wind das Zelluloseröllchen mit sich und erfreute Bernhard mit einer neuen Rekordweite. Einer der schwarzen Vögel stieß herab und pickte danach. Nicht!, dachte er. Aber Vögel sind nicht dumm. Er erkannte die Täuschung, wandte den Kopf ein paar Mal ruckartig nach links und rechts und hob wieder ab. Ob er auf ihn sauer war? Dachten Vögel überhaupt? Hatten sie wenigstens Gefühle? So vieles wollte er gerne wissen. Und darüber wollte er mit jemandem sprechen. Margot …
Scheiße.
Er stand auf. Der Strand schien endlos. Endlosigkeit war hier überhaupt das Thema. Die See. Irgendwo entzog sie sich dem Zugriff seiner Augen, verschwand einfach so, verkrümelte sich hinter dem, was man Horizont nannte. Das Wasser ging in Linien ins Land über. Die vom Meer kommenden Wellen wanderten unablässig her, auf ihnen ritten weiße Schaumkrönchen und machten rauschend auf sich aufmerksam. Dann die feineren sich bewegenden Linien, in denen das Wasser schon bescheidener geworden war, erkannt hatte, dass sich das Land nicht mit Gebrüll erobern ließ. Leise murmelnd begab es sich in ihnen wieder zurück zu Seinesgleichen. Vielleicht grinsten diese schaumumrandeten Wasserzungen über ihre vorpreschenden Kolleginnen, weil die nicht wussten, dass es sinnlos war? Ihr werdet es gleich erleben? Wie versandete Wellenausläufer zeichneten die nächsten, schon statischen Linien Geschichte der letzten Minuten und Stunden. An ihren Rändern Ästchen, Früchte, Muscheln. Die Kokosnüsse lagen weiter oben, bildeten die Hauptlinie. Manche waren grün, andere bereits braun, manche angebissen und wieder andere wankelmütig: Halb braun, halb grün. Ab und zu Anzeichen von Zivilisation dazwischen: eine rote Ketchup-Flasche, eine Plastiktüte.
Der Wind trieb sein Haar auf die Seite, er spürte den Widerstand in den Haarwurzeln. Roch Salz und Tang. Und obwohl er erst seit kurzem hier war, kam es ihm so vor, als wäre er schon immer hier gewesen, nur würde es ihm erst jetzt bewusst. Ach, Margot …
Morgen wollte er Kontakt aufnehmen mit dem Ingenieur, der die Forschungen vorantrieb. Wie es wohl mit der Verständigung klappen würde?
Er wandte seine Schritte wieder landeinwärts.
Lotte
Bernhard lernte Lotte in dem Laden kennen, in dem er einkaufte. Im Schaufenster lag über die ganze Breite eine Parade Ananas, eine neben der anderen saßen sie behäbig hinter der Glasscheibe und streckten ihre stachelige Krone nach oben. Wie große Perlen, dachte er, die sagten: Greif mich bloß nicht an! Iss mich von mir aus, aber greif mich nicht an. Er hatte schmunzeln müssen und war hineingegangen, denn er liebte Ananas. Und nun sollte er die Möglichkeit haben, eine echte, frische zu erstehen. Er war neugierig, wie sie sich von den konservierten, die er kannte, unterschieden. Er hatte sie zu Hause in Deutschland gut und gerne dosenweise verspeist. Im Geschäft war ihm dann das englische Wort für Ananas nicht eingefallen. In der Hoffnung, dass sie auf Englisch gleich hieße – exotisch genug fand er den Namen ›Ananas‹ ja, dass es hätte sein können – hatte er danach gefragt.
Die Frau hinter der Theke, allein schon durch ihre gewellte rote Mähne nicht zu übersehen, hatte gelächelt. »You mean pineapple?«
Er hatte sich ertappt übers Kinn gestrichen und genickt.
»Wir können aber auch Deutsch miteinander reden«, meinte sie und zwinkerte ihm zu. Was für eine famose Fügung! Nach knapp zwei Wochen wieder ein deutsches Wort zu hören!
»Wie wunderbar, ein Stückchen Heimat!«, rief er begeistert aus.
Sie lächelte und versicherte, es wäre gegenseitig.
Nach ihrem Dienstschluss saßen sie im Kaffee nebenan und plauderten wild drauflos. Bernhard erfuhr, dass sie nach Australien gekommen war, um ihren alten Vater zu pflegen. Ihr Mann konnte aus beruflichen Gründen nicht mitkommen und ihr war es ein willkommener Grund gewesen, der angespannten Beziehung zu entkommen. Sie war bereits ein Jahr hier. Englisch konnte sie deshalb gut, weil ihre Mutter Schottin war. Als er das erfuhr, war ihm klar, woher dieses leuchtendrote Haar und die niedlichen Sommersprossen stammten. Ihrem Vater war es ganz überraschend schnell besser gegangen, nachdem sie hier war. Das musste sie ja nicht unbedingt nach Hause melden. Ihr gefiel es und sie hatte sich dafür eingerichtet, länger hierzubleiben.
Am nächsten Tag wiederholten sie den Kaffeehausbesuch.
Als sie sich verabschiedeten, fragte Lotte: »Hast du morgen Lust auf ein Picknick am Strand?«
»Dort drüben ist das große Riff, aber das weißt du ja. Warst du schon mal dort?«, fragte Lotte und deutete zum Meer hinaus.
Bernhard sah nach links und nickte. »Ja … das heißt nein, ich war noch nicht draußen. Aber gehört habe ich jede Menge davon. Wie lernt man das Riff kennen?«
»Es gibt viele Inseln mit traumhaften Stränden. Aber die wirklich atemberaubenden Erlebnisse hast du unter Wasser. Hast du schon einmal geschnorchelt?«
Bernhard schüttelte den Kopf. Schon der Gedanke daran verminderte die aktuelle Temperatur um ein paar Grad und sog ein wenig Farbe aus der Umgebung. Wasser war nicht sein Element. »Nein, kann ich mir interessant vorstellen«, sagte er stattdessen halbherzig. Er wollte ihr nicht die Möglichkeit geben, in ihm einen Schwächling zu vermuten. Er beugte sich vor, schnitt ein Stück Fleisch ab und schob mit dem Messer Reis auf die Gabel. Er kaute und hielt sich die Hand vor den Mund.
Dann sagte er: »Danke für dieses wunderbare Picknick.« Und nachdem er heruntergeschluckt hatte: »Ich wusste gar nicht, dass Leben so schön sein kann.« Kaum hatte er das gesagt, spürte er einen Stich und es fühlte sich an, als betröge er Margot mit diesen Worten.
»Denkst du wieder an sie?« Lottes Stimme klang weich.
Er nickte. Sie aßen stumm weiter. Zwischen sich eine karierte Decke, auf der Töpfe und Schalen mit Fleisch, Reis und Salaten standen. Daneben ein geflochtener kleiner Koffer, in dem exotische Früchte darauf warteten, bis ihr Auftritt an die Reihe kam.
»Es muss schlimm sein«, sagte sie nach einer Weile, »wenn man seinen Seelenpartner getroffen hat und ihn dann verliert.«
»Ja«, gab er zurück. »Aber es ist auch schlimm, wenn man zu zweit alleine ist.«
Sie klemmte den Mittelteil ihrer Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger und rollte ihn bedächtig abwechselnd nach außen und innen.
»Ja, ich kenne das«, erzählte sie dem Meer. »Du merkst nicht, wie das passiert. Es schleicht sich ein, ganz langsam.« Sie wandte ihm den Kopf zu. »Kennst du das auch?«
Er nickte.
»Irgendwann«, fuhr sie fort, »kommt dir irgendetwas eigenartig vor, aber du weißt nicht einmal, was es ist. So, als ob du bis zum Hals unter Wasser bist und der Spiegel steigt. Es fällt dir auf, wenn das Wasser in deinen Mund rinnt. Doch selbst dann noch denkst du, dass du nur zu schlucken brauchst. Aber es rinnt nach und schneller und mehr. Dann kommt der Augenblick, wo du schnell entscheiden musst, ob du dich von der Flüssigkeit übernehmen lassen oder du selbst bleiben möchtest.« Sie schwieg ein paar Atemzüge lang. »Das ist nicht so einfach, denn wenn du heraussteigst, frierst du als Erstes.«
Sie hob eine Handvoll Sand auf und ließ ihn durch ihre Finger rieseln. Der Wind modellierte die zum Boden rieselnden Sandsträhnen nach seiner Weise.
»Wie wird es bei dir weitergehen?«, fragte Bernhard. »Bleibst du hier? Gehst du zurück? Wirst du dich von deinem Mann trennen?«
Sie blickte aufs Meer und zuckte nach einer Weile mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Deutschland ist so weit weg. Nicht nur was die Entfernung anbelangt. Hier gibt es Sonne und Strand und Meer und nette Leute. Mir gefällt es hier. Du hast ja sicher selbst schon bemerkt, was für ein gemütliches Nest Cairns ist.«
Er nickte. »Möchtest du denn ewig Verkäuferin bleiben? Hier? Ist dir das auf die Dauer nicht zu langweilig?«
Sie blies die Backen auf und lachte. »Keine Ahnung! Weißt du, was mein Vater immer sagt?« Sie neigte den Kopf und öffnete die Hände nach oben. »Man solle alles tun, um so frei sein zu können wie ein Vogel.«
Frei wie ein Vogel. War er jemals frei gewesen?
»Frei wie ein Vogel …«, murmelte er. »Ich habe immer gerne gearbeitet. Aber wenn ich es so betrachte … solange ich im gleichen Tempo in dieselbe Richtung ruderte wie die anderen, fühlte es sich frei an. Aber als ich aufhörte, spürte ich zum ersten Mal, wie sich Gegenströmung anfühlt. Nein, ich glaube, ich war nie frei. Du?«
Sie schüttelte den Kopf. »Hier fühlt es sich zum ersten Mal ein wenig danach an.«
Sie schwiegen eine Weile. Draußen zog mit geblähten Segeln ein Katamaran vorbei. Ein lieblicher Duft wehte Bernhard in die Nase und er blickte sich nach der Quelle um, konnte aber nichts finden. Vielleicht ist es der Duft der Freiheit, dachte er und spürte, wie sich seine Mundwinkel nach oben zogen. Er blickte zur Seite. Der Wind spielte mit Lottes Haaren, sie hatte die Augen leicht gegen die Helligkeit zusammengekniffen, was ihr einen nachdenklichen Gesichtsausdruck verlieh. Wie schön wäre es, könnte er mit Margot hier sitzen. Nein, das ginge nicht, denn lebte Margot noch, wäre er nie hier. Er säße im Büro, würde seine Baustellen abwickeln, sich zwischendurch mit seinem Turbinenprojekt auseinandersetzen und mit Margot planen, wie ihre gemeinsame Zukunft aussähe. Vielleicht ein Kind, vielleicht auch zwei? Ihm wurde eng in der Brust, als er an all das dachte. Eng aus Schmerz, aber auch eng in Hinsicht auf das Berechenbare, mit dem sein Leben dann vielleicht weitergegangen wäre.
»Was denkst du?«, fragte Lotte.
»Ich dachte an die Geradlinigkeit, die das Leben in Mitteleuropa hat. Heute ist es ja schon viel besser. Aber zur Zeit meiner Eltern noch wurde der Sohn oft, was der Vater war. Da war kein Platz für die persönlichen Träume.«
»Was nützt der Traum, wenn man keinen hat«, sagte sie leise, ohne aufzublicken.
»Du meinst, die Menschen bei uns haben keine? Sind sie hier kreativer?«
»Ich glaube schon, dass Menschen bei uns zu Hause Träume haben. Aber ich glaube auch, dass es tabu ist, zu träumen. Man träumt nicht, sondern man arbeitet. Schon die Bibel spricht vom Schweiß des Angesichts, in dem man sich sein Brot verdienen soll. Da bleibt wenig Spielraum für Träume. Träumen ist für Träumer und die werden als lebensunfähig nicht ernst genommen.«
»Aber wie sollten dann jemals Erfindungen möglich werden, wenn man nicht träumen dürfte?«, fragte er und dachte an seine Turbine.
Sie nickte geistesabwesend. Dann verloren ihre Züge das Unbestimmte und sie blickte ihn an. »Was ist das eigentlich mit deiner Turbine? Ehrlich gesagt habe ich nicht verstanden, worum es geht.«
Bernhard freute sich über ihr Interesse und auch darüber, dass das Gespräch den Treibsand verließ und wieder auf festen Boden gelangte. »Am Mittwoch habe ich mich mit dem Ingenieur getroffen, der für die Forschungsarbeiten in Kimberley federführend ist. Es geht dabei um ein Kraftwerk, das man in eine Flussmündung baut und so sowohl aus dem Druck des Flusses, als auch aus dem der Flut Nutzen zieht. Eine Turbine, die in beiden Richtungen aus dem Gefälle Energie gewinnt. Ich habe eine Turbine entwickelt, die einen bis zu drei Mal höheren Wirkungsgrad erlaubt als herkömmliche. Auch könnte diese Turbine ohne den Damm auskommen, so wie man in Rance in Frankreich begonnen hat.«
»Macht dir diese Arbeit Spaß?«, fragte sie, den Kopf schief gelegt und blinzelnd, denn mittlerweile schlüpften ab und zu Strahlen der Nachmittagssonne durch die Palmen und kitzelten in den Augen.
»Spaß?« Er dachte nach. War Spaß das richtige Wort? Sein Vater hatte ihn gelehrt, etwas Wichtiges zu machen, wäre notwendig, denn Erfolg ist eine Grundlage für Zufriedenheit. Und die Erlebnisse in den Flözen hatten ihm ein Betätigungsfeld gezeigt, das reizvoll, exotisch, umweltfreundlich und auch noch sozial war. Ging es dabei um Spaß?«
»Spaß«, wiederholte er. »Muss Arbeit denn Spaß machen?«
»Warum nicht?«
»Spaß kann man doch in der Freizeit haben.«
»Und was spricht dagegen, beides zu verbinden?«
»Das ist … das ist …« Spontan wollte er etwas entgegnen, aber es fiel ihm kein Argument ein. So beendete er den Satz mit: »unüblich.«
Lotte lachte laut auf. »Und wer gibt dir einen Orden, wenn du Übliches machst? Bleibt nicht dadurch alles immer so, wie es ist? Künstler«, dabei hob sie den Finger, »Künstler machen das zum Beruf, was ihnen Freude bereitet.«
»… und sind auf Almosen anderer angewiesen.«
»Nicht alle!« Lotte setzte sich gerade auf. »Schau dir Picasso an. Dem ging es auch zu Lebzeiten gut.«
»Und schau du dir an, was für ein Kotzbrocken der war. Nein danke.« Bevor sie zum Kontern kam, fragte er: »Und du, macht dir das Verkaufen Spaß?« Jetzt hatte er sie! Denn das konnte keinen Spaß machen. Den ganzen Tag im Laden zu stehen und Ananas über die Theke zu reichen.
»Ja«, sagte sie schlicht.
Er runzelte die Stirn. »Ja?« Das gab es doch nicht.
»Ja. Zu Hause in Deutschland fände ich es sicher nicht lustig. Aber hier? Ich lerne ständig etwas dazu.«
»Dazu? Du lernst was dazu?«
»Na ja, es hält sich in Grenzen. Aber ich halte die Ohren offen. Vielleicht ergibt sich etwas.«
Bernhard stellte die Teller zusammen und wickelte das Besteck in eine Serviette. So konnte er Lotte beobachten, die sich zum Meer gekehrt hatte und mit über den Knien gefalteten Händen in die Ferne blickte. Sie war ganz anders als Margot, auch um einige Jahre jünger. Vermutlich fünfzehn Jahre jünger als er selbst. Sie wäre in einem idealen Alter für eine Familie. Aber sie war kein Muttertyp. Was ihr völlig fehlte, war diese latente Traurigkeit, die manchmal stärker, dann wieder schwächer in Margots Augen geschimmerte hatte. Lotte war trotz aller vermutlich auch gemischten Erfahrungen von Grund auf positiv. Keine alte Trauer, die ständig im Hintergrund darauf lauerte, eine Freude auszudämpfen, sondern funkelnde Neugier. Bernhard war mit einem Mal entsetzt über sich selbst. Wie konnte er vor wenigen Monaten die Frau verloren haben, von der er glaubte, in ihr seine zweite Hälfte gefunden zu haben, den Teil, um selbst komplett zu werden und nun … begehrte er bereits eine andere? Er schämte sich, er wollte Margot nicht hintergehen. Wenn er allerdings seine Gefühle verglich und hätte angeben müssen, wo denn dieser ziehende Strang bei ihm verankert wäre, so war es jetzt weniger das Herz, sondern einen Stock tiefer. Und das entsetzte ihn gleich noch mehr. Er war doch jahrelang ohne ein übermäßiges Bedürfnis nach Sexualität ausgekommen und nun musste er sich zwingen, an ihrem Busen, Hintern und ihren Beinen vorbeizusehen. Oder war das die tropische Luft?
»Willst du keine Kinder?«, fragte er sie und hoffte im selben Moment, dass sie nicht Gedanken lesen konnte.
»Kinder?«, fragte sie so zurück, als wäre sie noch mehr in ihren Gedanken als bei seiner Frage. »Nein.«
»Warum nicht? Alle Frauen wünschen sich doch Kinder.«
»Ich nicht«, antwortete sie knapp. Ein wunder Punkt?
»Du magst nicht darüber sprechen.«
Sie seufzte. »Ich kann keine bekommen.«
»Oh. Das tut mir leid.«
»War auch einer der Gründe, warum es mit uns bergab ging. Ich weiß nicht, ob es besser geworden wäre. Ich möchte Kinder nicht als Kitt missbrauchen, weil die Beziehung ohne nicht hält. Wahrscheinlich ist es besser so.«
Bernhard bog den Hals, hielt Ausschau nach den Früchten in Lottes Korb. Ananas, Papaya und Passionsfrucht. Er blickte zu ihr, fühlte sich ertappt.
Sie lächelte. »Auch einer der Gründe, warum ich nicht mit Begeisterung an Deutschland denke.« Sie nahm ein Messer, reinigte es mit einer Serviette und klaubte eine Papaya aus dem Korb.
Bernhard beobachtete mit wachsendem Unbehagen seine Gefühle, für die Lotte verantwortlich war. Er hatte es sich unverbrüchlich im Flugzeug versprochen, an Beziehungen nicht einmal mehr Gedanken zu verschwenden. Hatte dieses Thema ein für alle Mal abgehakt. Wollte sich nicht ein drittes Mal dermaßen aus der Bahn werfen lassen. Er wollte sich doch nur auf seine technische Vision konzentrieren. Arbeit und nichts anderes! Ohne links und rechts zu schauen. Würde er das, könnte er aus dem Leben ein größtmögliches Maß an Befriedigung ziehen, ohne in qualvollen, emotionalen Strudel die Orientierung zu verlieren. Er könnte so gleichermaßen etwas für sich tun als auch für die Menschheit. Könnte selbst das Leben genießen, indem er das tat, was ihm Freude bereitete, während er gleichzeitig eine zweite Quelle des Wohlbefindens anzapfte: die Genugtuung – und vielleicht sogar in Worte oder Artikel gefasstes Wohlwollen – dafür, dass er etwas für die Umwelt und Allgemeinheit getan hatte. Wobei die Umwelt vermutlich den meisten egal sein würde, das war ja nur seine persönliche Sicht durch seine Zechenerlebnisse. Was konnte ein Mensch mehr von seinem Leben erwarten? War er nicht in Wirklichkeit mit großer Gnade gesegnet, das tun zu dürfen, was ihm ein Herzensanliegen war?
Und nun das? Eine kleine Verkäuferin aus einem australischen Lebensmittelladen stellte unter Zuhilfenahme eines banalen Picknickkorbes seinen ganzen schönen Lebensplan infrage? Das konnte er nicht zulassen. Nein, ganz sicher nicht.
Doch dann meldete sich eine Stimme in seinem Kopf, die ihm zwar in letzter Zeit ab und an vage aufgefallen war, aber es nie so wirklich ins Bewusstsein geschafft hatte. Eine neue Stimme mit unangenehmen Meldungen. So zum Beispiel gerade eben: ›Mein Lieber‹, sagte sie und verärgert glaubte er, auch noch einen Ansatz von Hohn wahrzunehmen, ›waren die Parameter nicht andere, als du dich die letzten Jahre in Beruf und Vision vergrubst?‹
Nun ja, schon …
›Du hast einen zweiten Schock erlebt, damit du mal deinen Hintern zu bewegen beginnst. Du kannst doch nicht im Ernst annehmen, dass alles so weitergeht wie früher?‹
Und was hatte das mit Lotte zu tun?
›Alles, mein Guter! Das mit dem Eingraben funktioniert nicht mehr. Nicht umsonst bist du im Land der Strauße.‹
Das werden wir ja sehen, ob das nicht funktioniert. Und: Sag nicht immer ›mein Guter‹ oder ›mein Lieber‹, das hatte meine Mutter schon zur Genüge getan! Jetzt glaubte er, auch noch ein leises, penetrantes Kichern zu hören. War irgendetwas mit den Früchten nicht in Ordnung?
»Alles klar bei dir, Bernhard?«
»Äh … natürlich. Weshalb?«
»Ach nichts. Du kamst mir nur recht abwesend vor.«
Die Sonne war zwar noch als Licht vorhanden, aber vom sichtbaren Horizont war sie verschwunden, als Bernhard und Lotte, Decke geschultert und Picknickkorb in der Hand, zu ihrem Auto gingen. Die Automarke Holden war Bernhard unbekannt gewesen, bis er mit Stirnrunzeln vor dem zweifarbigen Gefährt gestanden war: die Karosserie in hellem Olivgrün, das Dach weiß. Es war der Wagen ihres Vaters, der Autos liebte, seit es welche gab. Als genau im Jahr 1900 Geborener war für ihn diese Entwicklung berauschend gewesen. Lotte hatte Bernhard aufgeklärt, dass dies der größte australische Automobilhersteller wäre und die meisten Leute einen Holden führen.
Schon beim Zusammenpacken hatte Lotte ihn manchmal wie unabsichtlich berührt. Auf dem Weg zum Auto lachte sie einmal, wobei sie ein wenig die Balance verlor und an ihn stieß. Ein weiteres Mal war es ihm vorgekommen, dass sie einen Stein zum Anlass eines versehentlichen Stolperns genommen hätte. Nun, als die Heckklappe offenstand und alles verstaut war, legte sie ihre Hand auf seine und fragte ihn, ob er nicht Lust hätte, mit ihr heute Abend tanzen zu gehen.
Um Himmels Willen, sie war doch fünfzehn Jahre jünger als er. Obwohl … körperlich wäre er durchaus dazu in der Lage. Nach dem Krieg hatte er es zwar zuerst als angenehm empfunden, sich nicht mehr körperlich verausgaben zu müssen. Doch nicht lange danach hatte ihm etwas gefehlt. Er hatte begonnen, wenigstens jeden zweiten Tag einen Dauerlauf von mindestens einer halben Stunde einzulegen, und das hatte ihm körperlich dazu verholfen, eine gute Figur zu behalten. Dass das nun solche Auswirkungen zeigte, schmeichelte ihm. Aber was war mit der Abmachung sich selbst gegenüber? Nein, er wollte dem widerstehen. Wenn er schon so weit gekommen war, dass er sich seine Arbeit aussuchen konnte … nein, er wollte sein Glück nicht gefährden. Denn, wer weiß, wohin ihn das führen würde. Am Ende zu einer Familie, einem Haus und gemütlicher Sesshaftigkeit. Andererseits … Lotte war ein verführerisches und unkompliziertes Wesen. Nein, sie war mehr. Er dachte an die Gespräche dieses Nachmittags zurück, und ihre ungezwungene Fröhlichkeit, mit der sie alles in Angriff nahm, beeindruckte ihn.
»Tanzen?«, fragte er zurück.
»Ja, tanzen. Hier gibt es eine wunderbare Tanzbar, wo samstags eine Combo spielt.«
»Ich war so gut wie nie tanzen … nein, ich kann das nicht.« Wie konnte er sich nur aus diesem Angebot herauslavieren? Tanzen auch noch mit ihr, das würde garantiert all seine Vorsätze den Bach hinuntergehen lassen.
Sie sah ihn von unten herauf an, zog einen süßen Schmollmund.
»Nein, Lotte, nein, das geht nicht. Ich muss noch bis Montag eine Menge vorbereiten. Ich habe dir ja erzählt, dass ich nach Melbourne fliege.«
Sie seufzte. »Zwingen möchte ich dich natürlich nicht, mit mir auszugehen.« Sie drehte sich einmal im Kreis, was ihr Sommerkleid einen tellerartigen Kreis um sie beschreiben ließ und eine Menge Bein zeigte. »Dann muss ich jemanden anderen fragen.«
Was war das denn? Eine kleine Erpressung? Und – störte das etwa auch noch, wenn sie mit jemand anderem ausging? Das wäre doch lächerlich. Nein, aus Schluss. »Lotte, es tut mir wirklich leid, heute geht es einfach nicht mehr. Ein andermal?«
Sie presste die Lippen zusammen und machte ein sehr konzentriertes Gesicht. »Hm … ein andermal. Nun, ich werde dann nachsehen, ob ich in meinem Terminkalender noch ein Plätzchen finde. Versprechen kann ich da aber nichts …«
Sie schmollte zwar nun ganz offensichtlich, schien ihm aber nicht böse zu sein. Er klopfte sich innerlich auf die Schulter, diesmal entwischt zu sein. Und er stellte fest, dass er froh war, sie nicht verärgert zu haben. Dass er froh war, ärgerte ihn hingegen wiederum.
Als sie bei seinem Hotel ankamen, stiegen beide aus, kamen einander entgegen und lehnten sich an den Kühlergrill, unter dem es abkühlend knisterte. Ein paar Autos fuhren vorüber, die er mit seiner neuen Kenntnis tatsächlich zu einem großen Teil als Holdens einordnen konnte. Normale Limousinen und solche, deren hintere Sitzreihe und Kofferraum einer Ladefläche gewichen waren. Auch solche Autos waren ihm fremd.
Er zeigte auf einen dieser Personen-Lastwägen, wie er sie bei sich nannte. »So etwas gibt es bei uns zu Hause auch nicht«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Dort gibt es aber auch keine Farmen, zu denen man ewig weit übers Land fahren muss. Diese Art von Kombi-Fahrzeugen sind hier sehr gefragt.« Dann drehte sie sich zu ihm. »Und du bist dir ganz sicher wegen heute Abend …? Vielleicht Autokino? Theater? Es muss ja nicht tanzen sein.«
»Heute geht es nicht, wirklich.« Dabei bemühte er sich, ein möglichst untröstliches Gesicht zu machen. Sie tat ihm leid, wie sie ihn mit einer Mischung aus Hoffnung und Traurigkeit ansah. »Vielleicht wenn ich zurück bin?«
»Oh ja!« Mit der Schnelligkeit eines Wimpernschlags hatte sie auf strahlend umgeschaltet und wirkte wie ein übermütiges junges Mädchen. »Ich freue mich darauf!« Dann drehte sie den Kopf von ihm weg und bot ihm ihre Wange. »Hier«, sagte sie und tippte darauf, »darfst du mir einen Abschiedskuss hinterlassen. Als Pfand sozusagen.«
Er beugte sich hinunter, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, drehte sich um und sah zu, dass er fortkam. Das alles war ihm viel zu brisant. Außerdem ärgerte er sich, ihr ein Treffen in Aussicht gestellt zu haben.